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Das Feuer von Innen

Quelle: Das Feuer von Innen

Spiegeltechnik

Führe diese Technik nur mit jemanden aus der versteht wasser tut!!!

Am nächsten Tag fuhren wir in die Stadt, und ich kaufte alle nötigen Teile für den Rahmen. Für ein kleines Handgeld durfte ich ihn selbst in einer Mechanikerwerkstatt zusammenbauen. Don Juan befahl mir, den fertigen Rahmen in den Kofferraum meines Wagens zu legen. Er würdigte ihn keines Blickes. Er bat mich, ihm den Spiegel zu zeigen. Er schien erfreut und bemerkte, wie leicht und doch stabil er sei. Er stellte fest, daß ich Metallschrauben benutzt hatte, um einen Aluminiumrahmen mit inem Stück Blech zu verbinden, das ich als Rückwand für einen Spiegel von achtzehn mal vierzehn Zoll Breite genommen hatte. »Ich machte damals einen hölzernen Rahmen für meinen Spiegel«, sagte er. »Dieser hier sieht viel besser aus als meiner. Mein Rahmen war zu schwer, und dabei doch zerbrechlich. Ich will dir nun erklären, was wir tun werden«, fuhr er fort, nachdem er mit der Begutachtung meines Spiegels fertig war. »Oder, was wir zu tun versuchen werden, sollte ich vielleicht sagen. Wir beide werden diesen Spiegel auf die Wasserfläche des Bachs hinter dem Haus halten. Der Bach ist breit genug und auch seicht genug für unsere Absichten. Der Zweck der Sache ist, daß wir die Flüssigkeit des Wassers einen Druck auf uns ausüben lassen werden, um uns hinwegtragen zu lassen.

»Spare dir deine Fragen auf, bis ich dir erklärt habe, was die Seher über das Bewußtsein herausfanden«, sagte er. »Dann wirst du alles, was wir tun, in einem anderen Licht sehen. Zuerst aber Jaß uns anfangen mit unserem Vorhaben.« Wir gingen zu dem nahegelegenen Bach, und er wählte eine Stelle mit flachen, herausragenden Steinen. Das Wasser dort, sagte er, sei flach genug für unseren Zweck. »Was glaubst du, wird geschehen?« fragte ich in einer AnwandJung von quälender Besorgnis. »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, was wir versuchen werden. Wir werden den Spiegel sehr behutsam, aber sehr fest in die Hände nehmen. Wir werden ihn sachte auf die Wasseroberfläche senken und ihn dann eintauchen. Dann werden wir ihn über den Grund halten. Ich habe es schon ausprobiert. Es gibt hier genügend Schlamm, so daß wir unsere Finger unter den Spiegel schieben und ihn festhalten können.« Er befahl mir, mich auf einem flachen Stein in der Mitte des sanften Wasserlaufs hinzuhocken, und hieß mich den Spiegel mit beiden Händen fassen, direkt an den Ecken der einen Seite. Er hockte sich mir gegenüber und faßte den Spiegel auf dieselbe Weise, wie ich es tat. Wir senkten den Spiegel hinab und hielten ihn dann, die Arme beinah bis zu den Ellbogen eintauchend, ins Wasser. Er befahl mir, mich von allen Gedanken freizumachen und die Fläche des Spiegels anzustarren. Der Trick dabei wäre, so wiederholte er immer wieder, überhaupt nichts zu denken. Ich blickte aufmerksam in den Spiegel. Die sachte Strömung verzerrte ganz leicht das Spiegelbild von Don Juans und meinem Gesicht — oder umgekehrt, die Spiegelung von Don Juans Gesicht und meinem wurde in der sachten Strömung leicht verzerrt. Nachdem ich einige Minuten unverwandt in den Spiegel gestarrt hatte, schien es mir, als würde das Spiegelbild seines und meines Gesichts allmählich viel klarer. Und die Fläche des Spiegels wurde größer, bis sie beinah einen halben Quadratmeter maß. Die Strömung schien stillzustehen, und der Spiegel wirkte klar, als befände er sich über dem Wasser. Noch merkwürdiger war die Schärfe unserer Spiegelbilder. Es war, als sei mein Gesicht vergrößert, nicht nur im Format, sondern auch in der Tiefenschärfe. Ich konnte sogar die Poren in der Haut über meiner Stirn erkennen. Don Juan flüsterte mir leise zu, ich solle nicht in seine oder meine Augen starren, sondern meinen Blick umherwandern lassen, ohne ihn auf einen bestimmten Teil unserer Spiegelbilder zu richten.

»Blicke starr, aber ohne zu starren!« befahl er mir immer wieder in eindringlichem Flüsterton. " Ich tat, wie er mich geheißen, ohne daß ich aufhören konnte, über diesen scheinbaren Widerspruch nachzugrübeln. Im gleichen Moment wurde etwas von mir in diesem Spiegel eingefangen, und der Widerspruch machte auf einmal Sinn. »Es ist möglich, starr zu blicken, ohne zu starren«, dachte ich, und im selben Moment, als dieser Gedanke sich formulierte, tauchte ein weiterer Kopf neben Don Juans und meinem auf. Er befand sich an der unteren Seite des Spiegels, zu meiner Linken.

Ich zitterte am ganzen Körper. Don Juan flüsterte mir zu, ich solle Ruhe bewahren und keine Furcht oder Überraschung zeigen, Wieder befahl er mir, hinzublicken, ohne den Neuankömmling anzustarren. Es kostete mich eine unvorstellbare Anstrengung, nicht einen Aufschrei zu tun und den Spiegel loszulassen. Mein Körper zitterte vom Kopf bis zu den Zehen. Wieder befahl Don Juan mir flüsternd, mich zusammenzureißen. Immer wieder stieß er mich mit der Schulter an.

Allmählich bekam ich meine Furcht unter Kontrolle. Ich blickte auf den dritten Kopf und erkannte allmählich, daß es kein menschlicher Kopf und auch kein Tierkopf war. Tatsächlich war es überhaupt kein Kopf. Es war eine Gestalt, die keine innere Bewegung aufwies. Als mir dieser Gedanke in den Sinn kam, erkannte ich augenblicklich, das ich dies nicht selbst gedacht hatte. Auch kam mir diese Erkenntnis nicht als Gedanke. Ich empfand einen Augenblick ungeheure Angst, und dann wurde mir etwas Unbegreifliches einsichtig. Die Gedanken waren eine Stimme in meinem Ohr!

»Ich sehe«, schrie ich auf englisch, aber kein Ton wurde laut. »Ja, du siehst«, sagte die Stimme in meinem Ohr auf spanisch.

Ich spürte, ich war von einer Macht umschlossen, größer als ich selbst. Ich hatte keine Schmerzen, nicht einmal Angst. Ich empfand nichts. Ich wußte jenseits allen Zweifels, denn die Stimme sagte es mir, dass ich durch keinerlei Willens oder Kraftanstrengung aus dem Griff dieser Macht ausbrechen konnte. Ich wußte, ich starb. Ganz automatisch hob ich die Augen, um Don Juan anzusehen, und in dem Moment, als unsere Blicke sich trafen, ließ die Kraft von mir ab. Ich war frei. Don Juan lächelte mir zu, als wisse er genau, was ich durchgemacht hatte.

Dann erkannte ich, daß ich aufrecht stand. Don Juan hielt den Spiegel schräg und ließ das Wasser abtropfen.

Schweigend gingen wir zum Haus zurück.

»Die alten Tolteken waren einfach fasziniert von ihren Entdekkungen«, sagte Don Juan.

»Ich kann verstehen, warum«, sagte ich. »Ich auch«, entgegnete Don Juan. Die Macht, die mich eingehüllt hatte, war so stark gewesen, daß sie mich noch Stunden später unfähig machte, etwas zu sagen oder auch nur zu denken. Sie hatte mich, bei völligem Fehlen  eigenen Willens, erfrieren lassen. Und nur langsam und schrittweise taute ich auf. »Ohne absichtliches Eingreifen unsererseits«, fuhr Don Juan fort, »hat sich diese alte toltekische Technik für dich in zwei Teile gespalten. Der erste genügte schon, dich vertraut zu machen mit dem, was da stattfindet. Mit dem zweiten werden wir zu erreichen versuchen, was die alten Seher anstrebten.« »Was hat stattgefunden dort draußen, Don Juan?« fragte ich. »Dazu gibt es zwei Auffassungen. Zuerst will ich dir die Auffassung der alten Seher erklären. Sie glaubten, daß die reflektierende Fläche eines unter Wasser getauchten glänzenden Gegenstandes die Kraft des Wassers vermehre. Dabei taten sie nichts anderes, als ins Wasser zu starren, und die reflektierende Oberfläche diente ihnen als Hilfsmittel, um den Vorgang zu beschleunigen. Sie glaubten, unsere Augen wären der Schlüssel zum Eintritt in das Unbekannte; indem sie ins Wasser starrten, ließen sie ihre Augen den Weg eröffnen.« Die alten Seher hätten nämlich beobachtet, so sagte Don Juan, daß die Nässe des Wassers lediglich befeuchte oder naß mache, während die Flüssigkeit des Wassers sich bewege. Sie sei unterwegs, so meinten sie, auf der Suche nach anderen Ebenen in der Tiefe dort unten. Sie glaubten, das Wasser sei uns nicht nur zur Erhaltung des Lebens geschenkt worden, sondern auch als Bindeglied, als Pfad zu den anderen Ebenen in der Tiefe. »Gibt es viele Ebenen in der Tiefe?« fragte ich. »Die alten Seher zählten sieben Ebenen«, antwortete er. »Und du, kennst du sie selbst, Don Juan?« »Ich bin ein Seher des neuen Zyklus, und folglich habe ich eine andere Auffassung«, sagte er. »Ich zeige dir nur, was die alten Seher taten, und ich erzähle dir, was sie dachten.« Er beteuerte, daß die Praktiken der alten Seher, nur weil er selbst eine andere Auffassung habe, mitnichten untauglich wären. Ihre Deutungen seien falsch gewesen, aber ihre Wahrheiten hätten für sie praktischen Wert gehabt.

»Mit dieser Technik, die ich dir zeigen werde, wollten sie zweierlei erreichen«, fuhr er fort. »Einerseits benützten sie die Flüssigkeit des Wassers, um sich auf die erste Ebene in der Tiefe transportieren zu lassen. Andererseits nutzten sie diese für eine direkte Begegnung mit einem Lebewesen aus dieser ersten Ebene. Die kopfähnliche Figur im Spiegel war eines jener Geschöpfe, das heraufkam, um nach uns zu sehen.«

»Sie existieren also wirklich!« rief ich aus.

»Aber gewiß«, antwortete er.

Die alten Seher, sagte er, hätten zwar Schaden gelitten durch ihr irrtümliches Festhalten an ihren Techniken, aber was sie dabei gefunden hätten, sei sehr wertvoll. So hätten sie etwa herausgefunden, daß der sicherste Weg, einem dieser Geschöpfe zu begegnen, über einen Wasserlauf oder eine Wasserfläche führt. Die Größe dieses Gewässers sei unerheblich. Ein Meer könne den gleichen Zweck erfüllen wie ein Tümpel. Er, Don Juan, habe sich für einen seichten Bach entschieden, weil er sich nicht gerne naß mache. Dieselben Ergebnisse hätten wir auch in einem See oder in einem großen Fluß erreichen können.

»Das andere Leben kommt, wenn der Mensch es ruft, um herauszufinden, was los ist«, fuhr er fort. »Diese toltekische Technik wirkt wie ein Klopfen an ihrer Tür. Die glänzende Fläche am Grund des Wassers dient, wie die alten Seher sagten, als Köder und als Fenster. Also begegnen sich Menschen und solche Geschöpfe an einem Fenster.«

»Ist es das, was mir dort passierte?« fragte ich.

»Die alten Seher würden sagen, du bist von der Kraft des Wassers angezogen worden - und von der Kraft der ersten Ebene, plus dem magnetischen Einfluß dieses Geschöpfes am Fenster.«

»Aber ich hörte eine Stimme, die sagte, daß ich sterbe.«

 

Die Stimme hatte recht. Du warst im Sterben, und du wärst gestorben, falls ich nicht dagewesen wäre. Dies ist die Gefahr wenn man die Techniken der Tolteken praktiziert. Sie sind ungeheuer wirksam, aber meistens sind sie tödlich.« Beschämt gestand ich ihm, daß ich erschüttert sei. Diese Gestalt im Spiegel zu sehen und die Empfindung einer Macht, die mich von überall einhüllte, das sei einfach zuviel für mich gewesen an diesem Tag. »Ich will dich nicht beunruhigen«, sagte er, »aber bis jetzt ist ja noch nichts passiert, Falls wir das, was mir einst passierte, als Anhaltspunkt nehmen können für das, was dir passieren wird, solltest du dich auf den Schock deines Lebens gefaßt machen. Besser, du schlotterst jetzt in den Stiefeln, als daß du morgen stirbst vor Angst.

Was werden wir noch mit dem Spiegel machen?« fragte ich. »Dieser Spiegel wird uns gute Dienste leisten bei einer direkten

Begegnung zwischen dir und dem Geschöpf, das du gestern nur kurz erblickt hast.«

»Was geschieht bei solch einer direkten Begegnung?« »Nun, es geschieht, daß eine Lebensform, die menschliche Form, einer anderen Lebensform begegnet. In diesem Fall, würden. Die zweite Phase jener Technik, die Don Juan mir zeigte, verlief ganz ähnlich wie die erste, nur daß ich doppelt so lange brauchte, um mich zu entspannen und meinen inneren Aufruhr zu beruhigen. Als mir dies gelungen war, wurde das Spiegelbild von Don Juans und meinem Gesicht sofort klar. Etwa eine Stunde lang “blickte ich zwischen seinem Spiegelbild und dem meinen hin und her. Ich erwartete, der Verbündete werde jeden Moment erscheinen, aber nichts geschah. Mein Nacken schmerzte. Mein Rücken wurde steif, und meine Beine waren schon taub. Ich wollte mich auf den Stein knien, um meine Rückenschmerzen zu lindern. Don Juan flüsterte mir zu, daß meine Beschwerden sofort verschwinden würden, wenn der Verbündete auftauchte. Er hatte völlig recht. Der Schock, eine runde Figur am Rande des Spiegels auftauchen zu sehen, verscheuchte alle meine Beschwerden. »Was tun wir jetzt?« flüsterte ich. »Entspanne dich und richte deinen Blick aus, aber auf nichts Bestimmtes, auch nicht für einen Moment«, antwortete er. »Beobachte alles, was im Spiegel erscheint. Blicke, ohne zu starren.« Ich gehorchte. Mit flüchtigen Blicken streifte ich alles, was im Rahmen des Spiegels zu schen war. In meinen Ohren tönte ein eigenartiges Summen Don Juan flüsterte, ich solle, falls ich mich, von einer unheimlichen Macht eingehüllt fühlte, meine Augen im Uhrzeigersinn rollen; auf gar keinen Fall, so betonte er, sollte ich den Kopf heben und ihn anschauen. Nach einer Weile bemerkte ich, daß der Spiegel mehr als das Spiegelbild unserer Gesichter und der runden Figur zurückwarf. Seine Fläche hatte sich verdunkelt. Punkte von intensiv violettem Licht tauchten auf. Sie wurden größer. Da waren auch jettschwarze Punkte. Dann wurde daraus so etwas wie das flache Bild eines wolkigen Nachthimmels im Mondlicht. Plötzlich rückte, wie im Film, die ganze Fläche scharf ins Bild. Die neue Einstellung war ein atemberaubender, dreidimensionaler Ausblick in die Tiefen.
Ich wußte, daß es mir unmöglich sein würde, die ungeheure Aniehung dieses Bildes abzuwehren. Es fing schon an, mich in sich hineinzuziehen. Don Juan flüsterte eindringlich, ich solle meine Augen rollen, faIls mir mein Leben lieb wäre. Diese Bewegung brachte mir sofort Erleichterung. Ich konnte wieder unsere Spiegelbilder von jenem des Verbündeten unterscheiden. Dann verschwand der Verbündete und tauchte am anderen Rand des Spiegels wieder auf.

Don Juan befahl mir, den Spiegel mit aller Kraft festzuhalten. Er ermahnte mich, Ruhe zu bewahren und keine plötzliche Bewegung zu machen.

»Was wird jetzt passieren?« flüsterte ich.

»Der Verbündete wird versuchen, herauszukommen«, erwiderte er.

Kaum hatte er es gesagt, da spürte ich einen mächtigen Ruck. Irgend etwas riss an meinen Armen. Der Ruck kam von unter dem Spiegel her. Es war wie ein Sog, der einen einheitlichen Druck auf den ganzen Rahmen ausübte.

»Halte den Spiegel fest, aber pass auf, daß er nicht zerbricht«, befahl Don Juan. »Stemme dich gegen den Sog. Gib acht, daß der Verbündete den Spiegel nicht zu tief sinken läßt.«

Die Kraft, die uns hinunterzog, war gewaltig. Ich glaubte, meine Finger würden brechen oder an den Steinen am Boden zerquetscht werden. Irgendwann verloren Don Juan und ich beide das Gleichgewicht und mußten von unseren flachen Steinen ins Wasser hinabsteigen. Das Wasser war ziemlich seicht, aber der Verbündete rüttelte mit so beängstigender Kraft von allen Seiten her an dem Spiegel, daß es uns vorkam, als stünden wir in einem reißenden Fluß. Das Wasser wirbelte schäumend um unsere Füße, doch die Bilder im Spiegel blieben ungetrübt.

»Paß auf!« schrie Don Juan. »Da kommt es!«

Das Ziehen schlug um in ein Stoßen von unten. Irgend etwas packte den Rand des Spiegels; nicht den äusseren Rand des Rahmens, den wir festhielten, den inneren Rand des Glases. Es war, als sei die Glasfläche tatsächlich ein offenes Fenster, und irgend etwas oder irgend jemand schicke sich eben an, hindurchzuklettern,

Don Juan und ich mühten uns verzweifelt, den Spiegel hinunterzudrücken, sobald er nach oben gestoßen wurde, oder ihn heraufzuziehen, sobald er hinuntergezogen wurde. In gebückter Haltung bewegten wir uns langsam vom Ausgangspunkt bachabwärts. Das Wasser wurde tiefer, und der Grund war mit glatten Steinen bedeckt.

»Los, wir ziehen den Spiegel aus dem Wasser und schütteln ihn ab«, sagte Don Juan mit rauher Stimme.

Das lärmende Rütteln hielt unvermindert an. Es war, als hätten wir mit blossen Händen einen grossen, wild zappelnden Fisch gefangen. Mir kam die Idee, daß dieser Spiegel so etwas wie eine Luke sei. Tatsächlich versuchte eine sonderbare Gestalt, durch diese Luke zu steigen. Mit voller Wucht lehnte sie sich auf den Rand der Luke, und sie war so gross, dass sie das Spiegelbild von Don Juans Gesicht und meinem verdrängte. Ich sah uns nicht mehr. Ich konnte nur noch eine unförmige Masse erkennen, die sich hochzustemmen versuchte.

Der Spiegel lag nicht mehr am Boden auf. Meine Finger wurden nicht mehr gegen die Steine gedrückt. Der Spiegel hing in mittlerer Tiefe, in der Schwebe gehalten durch die widerstreitenden Kräfte. die der Verbündete und wir mit unserem Ziehen und Stoßen ausübten. Don Juan sagte, er werde nun seine Hände unter den Spiegel schieben, und ich solle sie ganz schnell fassen, damit wir mehr Hebelkraft hätten, den Spiegel mit unseren Unterarmen herauszuziehen. Als er losließ, kippte der Spiegel zur Seite. Rasch griff ich nach seinen Händen, aber ich griff ins Leere. Ich zauderte eine Sekunde zu lange, und der Spiegel glitt uns aus den Händen. »Pack ihn! Pack ihn!« schrie Don Juan.

Ich erwischte den Spiegel, kurz bevor er auf den Steinen aufschlug. Ich zog ıhn aus dem Wasser, aber nicht schnell genug. Das Wasser war zäh wie Leim. Während ich den Spiegel herauszog, zog ich auch ein wenig von einer schweren, gummiartigen Substanz heraus, die mir den Spiegel einfach aus den Händen und zurück ins Wasser riss.

Mit ausserordentlicher Behendigkeit fing Don Juan den Spiegel auf und zog ihn mühelos schräg aus dem Wasser.

Noch nie im Leben hatte ich einen solchen Anfall von Schwermut gehabt. Es war eine Traurigkeit ohne erkennbaren Grund. Ich verknüpfte sie mit der Erinnerung an die Tiefen, die ich im Spiegel gesehen hatte. Es war eine Mischung aus reiner Sehnsucht nach diesen Tiefen und absoluter Furcht vor ihrer beklemmenden Einsamkeit.

Don Juan stellte fest, daß es im Leben des Kriegers ganz natürlich sei, ohne offenkundigen Grund traurig zu sein. Die Seher behaupteten, daß das leuchtende Ei, als Energiefeld, seine letzte Bestimmung spüre, sobald die Schranken des Bekannten durchbrochen seien. Schon ein flüchtiger Blick in die Ewigkeit außerhalb des Kokon genüge, um die Behaglichkeit unseres Inventars zu stören. Die daraus folgende Schwermut sei manchmal so stark, daß sie den Tod herbeiführen könne.

Das beste Mittel, um diese Schwermut loszuwerden, sagte er, bestünde darin, sich darüber lustig zu machen. In spöttischem Ton meinte er, meine erste Aufmerksamkeit gebe sich alle Mühe, die Ordnung wiederherzustellen, die durch meinen Kontakt mit dem Verbündeten gestört worden sei. Da es unmöglich sei, sie mit rationalen Mitteln wiederherzustellen, versuche meine erste Aufmerksamkeit es, indem sie ihre ganze Kraft auf die Traurigkeit konzentriere.

Dies ändere aber nichts an der Tatsache, so sagte ich ihm, dass meine Schwermut real sei. Dass ich mich ihr überliess, dass ich Trübsal blies und deprimiert war, habe nichts mit dem Gefühl des Alleinseins zu tun, das ich bei der Erinnerung an jene Tiefen empfunden hätte.

»Endlich fängst du an, etwas zu begreifen«, sagte er. »Du hast recht. Es gibt nichts Einsameres als das Alleinsein. Und nichts ist für uns behaglicher, als ein Mensch zu sein. Tatsächlich ist dies schon wieder ein Widerspruch: wie kann der Mensch die Bindungen seines Menschseins behalten und sich gleichwohl mit Freuden und absichtlich in die absolute Einsamkeit der Ewigkeit vorwagen? Wenn du erst dieses Rätsel gelöst hast, wirst du bereit sein für dıe endgültige Reise.«

Jetzt wußte ich mit absoluter Gewißheit den Grund für meine Traurigkeit. Es war ein oft wiederkehrendes Gefühl bei mir, das ich stets vergaß, bis ich wieder dasselbe erkannte: die Winzigkeit des Menschseins gegenüber der Unermeßlichkeit jenes Ding-ansich, das ich im Spiegel reflektiert gesehen hatte.

»Der Mensch ist wirklich ein Nichts, Don Juan«, sagte ich. »Ich weiß genau, was du meinst«, sagte er. »Sicher, wir sind nichts. Aber genau dies macht die elementare Herausforderung aus, daß wir, ein Nichts, tatsächlich der Einsamkeit der Ewigkeit entgegentreten können.«

Er wechselte unvermittelt das Thema und ließ mich, meine nächste Frage unausgesprochen, mit offenem Mund stehen. Er fing an, unsere Kraftprobe mit dem Verbündeten zu erörtern. Vor allem, so sagte er, sei dieser Kampf mit dem Verbündeten kein Scherz gewesen. Es war, wie er meinte, eigentlich keine Frage auf Leben und Tod, aber es sei auch kein Picknick gewesen. „Ich habe mich für diese Technik entschieden«, fuhr er fort, »weil mein Wohltäter sie mir zeigte. Als ich ihn bat, mir ein Beispiel für die Techniken der alten Seher zu zeigen, wälzte er sich vor Lachen beinah am Boden. Meine Bitte erinnerte ihn so sehr an sein eigenes Erlebnis. Auch sein Wohltäter, der Nagual Elias, hatte ihm eine grausame Demonstration dieser Technik erteilt.«

Nachdem Don Juan selbst den Rahmen seines Spiegels aus Hildholz angefertigt hatte, so sagte er, hätte er eigentlich von mir verlangen sollen, es ebenso zu machen, aber er wollte wissen, was passiere, wenn der Rahmen stabiler war als der seine oder der seines Wohltäters. Beide Male sei der Rahmen gebrochen, und beide Male sei der Verbündete hervorgekommen.

Bei seiner eigenen Kraftprobe, erklärte er, habe der Verbündete den Rahmen zerbrochen. Er und sein Wohltäter hätten zwei Holzstücke in der Hand behalten, während der Spiegel versank und der Verbündete herauskletterte.

Sein Wohltäter wußte, mit welchen Schwierigkeiten er zu rechnen hatte. Im reflektierten Bild eines Spiegels, sagte er, seien die Verbündeten nicht wirklich beängstigend, denn man sähe nur eine Figur, eine Art feste Masse. Doch einmal herausgekommen, seien sie nicht nur fürchterlich anzusehen, sondern auch eine wirkliche Plage. Und sobald die Verbündeten aus ihrer Ebene herauskämen, sagte er, sei es sehr schwierig für sie, wieder dorthin zurückzukehren. Dasselbe gelte auch für die Menschen. Wenn Seher sich auf die Ebene dieser Geschöpfe vorwagten, sei es wahrscheinlich, daß man nie wieder von ihnen höre.

»Mein Spiegel wurde durch die Macht des Verbündeten zertrümmert«, sagte er. »Es gab kein Fenster mehr, und der Verbündete konnte nicht mehr zurückkehren. Also verfolgte er mich. Er rannte tatsächlich hinter mir her, um seine eigene Achse kugelnd. Ich krabbelte mit höchster Geschwindigkeit auf allen vieren und brüllte vor Angst. Ich raste wie ein Besessener bergauf und bergab. Der Verbündete war immer nur Zentimeter von mir entfernt.«

Sein Wohltäter, so erzählte Don Juan, sei hinterhergerannt, aber er sei damals schon alt gewesen und habe nicht so schnell laufen können. Er hatte aber die gute Idee, Don Juan nachzurufen, er solle ein Ausweichmanöver machen und ihm selbst Zeit lassen, die nötigen Vorbereitungen zu treffen, um den Verbündeten los zuwerden. Er rief, daß er ein Feuer anfachen wolle, und Don Juan solle im Kreis herumlaufen, bis alles bereit wäre. Dann machte er sich daran, trockenes Reisig zu sammeln, während Don Juan, besinnungslos vor Angst, um einen Hügel rannte.

Don Juan gestand. daß ihm, während er dort im Kreis herumlief, der Gedanke gekommen sei, sein Wohltäter könnte sich womöglich über die ganze Geschichte amüsieren. Er wußte, sein Wohltäter war ein Krieger, der in jeder denkbaren Situation seinen Spaß zu finden wußte. Warum also nicht in dieser? Einen Moment. so erzählte er, wurde er so wütend auf seinen Wohltäter, daß sogar der Verbündete aufhörte, ihn zu jagen. Mit deutlichen Worten warf Don Juan seinem Wohltäter Arglist vor. Sein Wohltäter antwortete nicht, sondern blickte nur, mit einer Gebärde des Entsetzens, an Don Juan vorbei nach dem Verbündeten, der über den beiden aufragte. Don Juan vergaß seinen Zorn und rannte weiter im Kreise.

»Mein Wohltäter war wirklich ein teuflischer Alter«, sagte Don Juan lachend. »Er hatte gelernt, innerlich zu lachen. Man sah es seinem Gesicht nicht an, und darum konnte er so tun als weinte oder tobte er vor Wut, während er in Wirklichkeit lachte. An diesem Tag, als der Verbündete mich im Kreis herumhetzte, stand mein Wohltäter einfach da und verteidigte sich gegen meine Vorwürfe. Ich hörte nur Bruchstücke seiner langen Rede, jedesmal, wenn ich an ihm vorbeilief. Als er damit fertig war, hörte ich Bruchstücke einer anderen langen Erklärung: daß er viel Holz sammeln müsse, daß der Verbündete sehr groß sei, daß das Feuer so groß sein müsse wie der Verbündete selbst, daß das Manöver vielleicht keinen Erfolg haben werde.

Nur meine irrsinnige Angst liess mich weitermachen. Schliesslich musste ihm klargeworden sein, dass ich nahe daran war, vor Erschöpfung tot umzufallen; er fachte das Feuer an, und mit dessen Flammen schirmte er mich gegen den Verbündeten ab.«

Und dann, erzählte Don Juan, seien er und sein Wohltäter die ganze Nacht bei dem Feuer geblieben. Am schlimmsten war es für ihn, als sein Wohltäter gehen musste, um mehr dürre Zweige zu sammeln, und ihn allein zurückliess. Er fürchtete sich so sehr, daß er bei Gott gelobte, er werde den Pfad des Wissens verlassen und Farmer werden.

»Am anderen Morgen, als ich meine ganze Energie erschöpft hatte, gelang es dem Verbündeten, mich ins Feuer zu stoßen, und ich holte mir schlimme Verbrennungen«, fügte Don Juan hinzu.

»Was wurde aus dem Verbündeten?« fragte ich.

»Mein Wohltäter hat mir nie gesagt, was aus ihm geworden ist«, erwiderte er. »Aber ich habe das Gefühl, dass er immer noch ziellos herumirrt und den Rückweg zu finden versucht.«

»Und was wurde aus deinem Gelübde an Gott?«

»Mein Wohltäter sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Es sei ein gutes Gelübde gewesen, nur sei leider niemand da, um sich solche Gelübde anzuhören, weil es keinen Gott gebe. Es gebe nur die Emanationen des Adlers, und ihnen etwas zu geloben, sei ganz unmöglich.«

»Was wäre passiert, wenn der Verbündete dich gefangen hätte?« fragte ich.

»Vielleicht wäre ich vor Angst gestorben«, sagte er. »Wenn ich gewusst hätte, was es bedeutete, von ihm gefangen zu werden, dann hätte ich mich vielleicht fangen lassen. Damals war ich ein sorgloser Mensch. Wenn ein Verbündeter dich fängt, stirbst du entweder am Herzschlag, oder du kämpfst mit ihm. Dann, nach einer kurzen Prügelei von gespielter Wildheit, schwindet die Energie des Verbündeten. Es gibt nichts, was ein Verbündeter uns antun könnte, und umgekehrt. Wir sind durch eine Kluft geschieden.

Die alten Seher glaubten, daß der Verbündete in dem Moment, da seine Energie dahinschwindet, dem Menschen seine Kraft überläßt. Kraft, oje! Die alten Seher hatten so viele Verbündete, daß sie ihnen aus den Ohren wuchsen, und doch konnte die Kraft ihrer Verbündeten gar nichts verhindern.«

Und wieder seien es die neuen Seher gewesen, erklärte Don Juan, die diese Verwirrung klärten. Sie hätten herausgefunden, daß es einzig auf Makellosigkeit ankomme - und das heißt, befreite Energie. Tatsächlich habe es unter den alten Sehern etliche gegeben, die von ihren Verbündeten gerettet wurden, aber dies habe nichts mit der Kraft der Verbündeten zu tun gehabt, irgend etwas zu verhindern. Vielmehr sei es die Makellosigkeit dieser Männer gewesen, die ihnen erlaubte, die Energie jener anderen Lebensformen zu nutzen.

Den neuen Sehern, sagte Don Juan, verdankten wir auch die bisher wichtigste Erkenntnis über die Verbündeten: nämlich, was sie für den Menschen nützlich oder nutzlos machte. Nutzlose Verbündete — und ihre Zahl sei verblüffend - seien diejenigen, die Emanationen in ihrem Innern hätten, für die es in uns Menschen keine Entsprechung gebe. Sie seien so verschieden von uns, daß sie uns durchaus nicht nützen könnten. Andere Verbündete - und deren gebe es erstaunlich wenige — seien uns ähnlich, das heißt, sie besäßen einige Emanationen, die mit den unseren übereinstimmten.

»Wie kann der Mensch sie benützen?« fragte ich.

»Benützen« ist vielleicht nicht das richtige Wort«, sagte er. »Ich würde sagen, was zwischen Sehern und Verbündeten stattfindet, ist so etwas wie ein gerechter Tausch von Energie.«

»Wie findet dieser Energietausch statt?« fragte ich.

»Durch ihre übereinstimmenden Emanationen«, sagte er. »Diese Emanationen gehören natürlich zur linksseitigen Bewußtheit des Menschen; zu der Seite, die der Mensch niemals benutzt. Aus diesem Grund sind sie auch gänzlich ausgeschlossen von der Welt der rechtsseitigen Bewußtheit, von der Seite der Rationalität.«

 

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