

Das Wirken der
Unendlichkeit
Das Wirken der Unedlichkeit
Quelle: Das Wirken der Unendlichkeit
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Das Album
»Jeder Krieger stellt in Erfüllung seiner Pflicht ein besonderes Album zusammen«, fuhr er schließlich fort. »Dieses Album zeigt die Persönlichkeit des Kriegers. Es ist ein Album, das die Umstände seines Lebens veranschaulicht.«
»Warum nennst du das eine Sammlung, Don Juan?« fragte ich streitsüchtig. »Oder ein Album?«
»Weil es beides ist«, erwiderte er. »Aber vor allem ist es wie ein Album mit Bildern der Erinnerungen gefüllt. Es sind Bilder, die aus der Erinnerung an denkwürdige Ereignisse stammen.«
»Sind diese denkwürdigen Ereignisse in einer besonderen Hinsicht denkwürdig?« fragte ich.
»Sie sind denkwürdig, weil sie im eigenen Leben eine besondere Bedeutung haben«, sagte er. »Ich schlage vor, du stellst dieses Album zusammen, indem du über verschiedene Ereignisse, die für dich von grundlegender Bedeutung sind, einen vollständigen Bericht ausarbeitest.«
»Jedes Ereignis in meinem Leben ist für mich von grundlegender Bedeutung, Don Juan!« erklärte ich mit Nachdruck, erkannte aber sofort das Ausmaß meiner Wichtigtuerei, »Nicht wirklich«, erklärte er lächelnd und schien sich köstlich über meine Reaktion zu amüsieren. »
»Bei diesem Album geht es nicht um Banalitäten oder um ein oberflächliches Wiederkäuen deiner Lebenserfahrungen«, sagte er.
Aber eine andere Stimme meldetete sich in mir zu Wort. Diese Stimme kann aus einer tieferen Region, aus größerer Entfernung und war beinahe unhörbar. Mitten im Lärm meines inneren Dialogs hörte ich sie sagen, es sei zur Umkehr zu spät. Aber ich hörte nicht wirklich meine eigene Stimme oder meine eigenen Gedanken. Es schien eher eine unbekannte Stimme zu sein, die sagte, ich sei bereits zu weit in Don Juans Welt vorgedrungen, und er sei für mich wichtiger als die Luft zum Atmen.
»Du kannst sagen, was du willst«, schien mir die Stimme klarzumachen, aber wenn du nicht der Egomane wärst, der du bist, dann würdest du dich nicht so aufregen.
Die Stimme deines anderen Bewusstsein
» Das ist die Stimme deines anderen Bewußtseins«, sagte Don Juan, als könnte er meine Gedanken hören oder lesen.
Ich zuckte unwillkürlich zusammen und war so erschrocken, daß mir Tränen in die Augen traten. Dann gestand ich Don Juan den wahren Grund meiner Zerrissenheit.
»Dein Konflikt ist völlig normal«, sagte er. »Und du kannst es mir glauben, ich übertreibe nicht. Das ist nicht meine Art. Ich kann dir ein paar Geschichten über meinen Lehrer, den Nagual Julian, erzählen und darüber, was er mir angetan hat. Ich habe ihn aus tiefster Seele gehaßt. Ich war sehr Jung und erlebte, wie die Frauen ihn angebetet haben. Sie schenkten sich ihm einfach so. Aber wenn ich auch nur versuchen wollte, mit ihnen zu sprechen, gingen sie wie Löwinnen auf mich los und waren bereit, mir den Kopf abzubeißen. Mich konnten sie auf den Tod nicht ausstehen, und ihn liebten sie. Kannst du dir vorstellen, wie es mir erging?«
»Wie hast du diesen Konflikt gelöst, Don Juan?« fragte ich neugierig.
Ich habe nichts gelöst«, erklärte er. »Das, der Konflikt oder was immer es war, war auf den Kampf der zwei Bewußtseine in mir zurückzuführen. Jeder Mensch hat zwei Bewußtseine. Das eine gehört wirklich uns. Es ist eine schwache Stimme, die uns stets Ordnung, Klarheit und eine Ausrichtung bringt. Das andere Bewußtsein ist ein Fremdkörper. Es bringt uns Konflikte, Geltungsbedürfnis, Zweifel und Hoffnungslosigkeit.«
Die Fixierung auf meine eigenen Gedankengänge war so stark, daß ich Don Juans Worte nicht verstand. Ich konnte mich zwar an jedes einzelne Wort erinnern, aber sie ergaben keinen Sinn. Don Juan sah mir in die Augen und wiederholte ruhig, was er gerade gesagt hatte. Doch ich begriff immer noch nicht, was er meinte. Es gelang mir nicht, meine Aufmerksamkeit auf seine Worte zu richten.
»Seltsamerweise kann ich mich nicht auf das konzentrieren, was du sagst, Don Juan.«
»Ich verstehe sehr wohl, warum du das nicht kannst«, sagte er und lächelte unbekümmert. »Eines Tages wirst auch du es verstehen, und dann wirst du auch den Konflikt gelöst haben, ob du mich magst oder nicht. Wenn dieser Tag kommt, dann wirst du nicht mehr das Ich-Ich-Zentrum der Welt sein.
»Im Augenblick genügt es, wenn ich wiederhole, was ich dir bereits über die beiden Bewußtseine gesagt habe. Das eine ist unser wahres Bewußtsein und es ist das Ergebnis aller unserer Lebenserfahrungen. Es meldet sich nur selten, denn es ist besiegt und zu Unverständlichkeit verdammt. Das andere Bewußtsein, das Bewußtsein, das wir täglich für alles benutzen, was wir tun, ist ein Fremdkörper.«
»Den Konflikt der beiden Bewußtseine zu lösen, ist eine Sache des Wollens«, sagte er. »Die Schamanen beschwören das Wollen, in dem sie das Wort Wollen laut und deutlich aussprechen. Das Wollen ist eine Kraft, die es im Universum gibt. Wenn Schamanen das Wollen beschwören, stellt es sich bei ihnen ein und öffnet ihnen den Weg zum Ziel. Das heißt, die Schamanen erreichen stets das, wozu sie sich entschließen.«
»Die Schamanen haben auf schwierige Weise herausgefunden, daß sich das Wollen bei ihnen nur dann einstellt, wenn es um etwas Abstraktes geht. Es ist das Sicherheitsventil der Schamanen, sonst wären sie unerträglich. In deinem Fall ist es keine unbedeutende, banale oder unvernünftige Sache, das Wollen zu beschwören, um den Konflikt der beiden Bewußtseine zu lösen oder um die Stimme deines wahren Bewußtseins zu hören. Im Gegenteil, es ist etwas Geistiges und Abstraktes. Und doch ist es für dich mehr als lebenswichtig.«
Aber eines Tages, während eines Vortrags, den ich anhörte, erhielt ich ganz plötzlich den gebieterischen Befehl, nach den denkwürdigen Ereignissen in meinem Leben zu suchen. Ich spürte den Befehl wie einen körperlichen Schlag. Ein nervöser Krampf ließ mich am ganzen Körper zittern.
Danach machte ich mich ernsthaft an die Arbeit. Ich brauchte Monate, um die Ereignisse meines Lebens, die ich für bedeutungsvoll hielt, auszugraben. Als ich das Gefundene überprüfte, mußte ich mir allerdings eingestehen, daß ich nur mit völlig belanglosen Erinnerungen spielte. Die Ereignisse, an die ich mich erinnerte, waren nur unbestimmte, sehr abstrakte Bezugspunkte.
Wieder einmal hatte ich den sehr beunruhigenden Verdacht, ich sei nur auf dieser Welt, um unaufhörlich etwas zu tun, ohne jedoch etwas dabei zu empfinden.
Die Geschichten im Album
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»Ich wiederhole noch einmal«, erwiderte er, »die Geschichten im Album eines Kriegers sind nicht persönlich. Mit deiner Geschichte von dem Tag, als zum Studium an der Universität zugelassen wurdest, machst du nur geltend, daß du der Mittelpunkt von allem bist. Du fühlst, oder du fühlst Du erkennst, oder du erkennst nicht. Verstehst du, was ich meine? Die ganze Geschichte dreht sich nur um dich, um deine Person.«
Die denkwürdigen Ereignisse, die wir suchen, besitzen den dunklen Anflug des Unpersönlichen. Dieser Anflug durchdringt sie. Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären könnte.
»Ich werde dir ein denkwürdiges Ereignis aus deinem Leben erzählen, das mit Sicherheit in deine Sammlung gehört, Oder sagen wir, ich an deiner Stelle würde es bestimmt in meine Sammlung denkwürdiger Ereignisse aufnehmen.«
Ich dachte, Don Juan mache einen Spaß, und reagierte darauf mit einem albernen Lachen,
»Da gibt es nichts zu lachen!« riefer scharf. »Ich meine es ernst. Du hast mir einmal eine Geschichte erzählt, die den Anforderungen entspricht.«
»Was für eine Geschichte ist das, Don Juan?« »Die Geschichte »Der Tanz vor dem Spiegel, antwortete er. »
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Zitat:
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»Die Schamanen sagen, in jeder Erklärung steckt eine getarnte Entschuldigung. Wenn du also erklärst, warum du dies oder das nicht tun kannst, dann entschuldigst du dich in Wirklichkeit für deine Schwächen und hoffst darauf, daß derjenige, der dir zuhört, die Freundlichkeit besitzt, sie zu verstehen.«
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Tanz vor dem Spiegel
»Aber für mich unterscheidet sie sich von den anderen und ist denkwürdig, weil sie jeden Menschen berührt und nicht nur dich, wie die anderen Geschichten. Verstehst du, jeder von uns, ob jung, ob alt, tanzt auf die eine oder andere Weise vor einem Spiegel. Du kannst alles, was du über Menschen weißt, zusammenfassen und an alle
Menschen auf dieser Erde denken, und du wirst ohne den geringsten Zweifel wissen, ganz gleich, wer jemand ist oder wofür sich jemand hält oder was jemand tut, das Ergebnis allen Tuns ist immer das selbe- ein sinnloser > Tanz vor dem Spiegel<.<<
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Der Nagual
»Ich bin ein Zauberer«, fuhr er fort. »Ich stehe in einer Tradition von Zauberern, die siebenundzwanzig Generationen umfaßt. Ich bin der Nagual meiner Generation.«
Er erklärte mir, daß der Anführer einer Gruppe von Zauberern Nagual genannt wurde. Es war ein Begriff, der in jeder Generation einen Zauberer mit einer bestimmten energetischen Struktur bezeichnete, die ihn von den anderen unterschied - nicht im Sinn von Überlegenheit oder Unterlegenheit oder etwas Ähnlichem, sondern nur in Hinblick auf die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.
»Nur der Nagual«, sagte er, »hat die energetische Fähigkeit, für das Schicksal seiner Gruppe verantwortlich zu sein. Jeder in seiner Gruppe weiß das, und alle sind mit seiner Rolle einverstanden. Der Nagual kann ein Mann oder eine Frau sein. Zur Zeit
der Zauberer, die meine Tradition begründet haben, war der Nagual in der Regel eine Frau. Ihr natürlicher Pragmatismus - ein Ergebnis ihrer Weiblichkeit - hat meine Tradition in die Fallgruben des Zauberer zu sein bedeutet, eine Ebene des
Bewußitseins zu erreichen, die unvorstellbare Dinge zugänglich macht. Der Begriff Zauberei ist unzulänglich, um das auszudrücken, was Zauberer tun. Das gilt auch für den Begriff Schamanismus. Das Tun der Zauberer beschränkt
sich ausschließlich auf das Abstrakte, auf das Unpersönliche. Zauberer bemühen sich darum, ein Ziel zu erreichen, das überhaupt nichts mit den Zielen der durchschnittlichen Menschen zu tun hat. Die Zauberer bemühen sich darum, die Unendlichkeit zu erreichen und sich ihrer bewußt zu werden.«
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Don Juan erklärte dann, es sei die Aufgabe der Zauberer, sich der Unendlichkeit zu stellen. Das tun sie täglich, so wie ein Fischer täglich aufs Meer hinausfährt. Es sei eine so überwältigende Aufgabe, daß die Zauberer ihre Namen aussprechen mußten, bevor sie sich auf die Wanderung begaben. Don Juan erinnerte mich daran, daß er mir in Nogales seinen Namen genannt hatte, bevor sich etwas zwischen uns beiden hatte ereignen können.
Energie sehen wie sie fliesst
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Er blickte mir direkt in die Augen und erklärte, ein Mensch sei dann ein Zauberer, wenn er die Fähigkeit
besitzt, die Energie so wahrzunehmen, wie sie im Universum fließt. Wenn die Zauberer einen Menschen auf diese Weise wahrnehmen, sehen sie eine leuchtende Kugel oder eine leuchtende eiförmige Gestalt. Er behauptete, die Menschen seien nicht nur in der Lage, die Energie zu sehen, wie sie im Universum
fließt, sie sehen tatsächlich Energie, obwohl ihnen nicht bewußt wird, daß sie Energie sehen.
Anschließend erklärte er die für Zauberer grundlegende Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Zustand des Bewußtseins und dem besonderen Zustand, in dem man sich einer Sache vorsätzlich bewußt ist. Jeder Mensch besitzt Bewußtsein in einem allgemeinen Sinn, das ihm erlaubt, Energie direkt zu sehen. Zauberer sind die
einzigen Menschen, die sich vorsätzlich bewußt sind, daß sie Energie direkt sehen. Dann definierte
er Bewußtsein als Energie und sagte, Energie ist ein ständiger Fluß, eine leuchtende
Schwingung, die nie zum Stillstand kommt, sondern sich stets im Einklang mit sich selbst bewegt.
Er unterstrich, wenn man einen Menschen sieht, dann nimmt man ihn als ein Konglomerat von Energiefeldern wahr, die von der geheimnisvollsten aller Kräfte des Universums zusammengehalten wird – einer verbindenden, zusammenfügenden, schwingenden Kraft, die Energiefelder zu einer Einheit verbindet. Er sagte darüber hinaus, der Nagual jeder Generation sei ein besonderer Zauberer, den die anderen Zauberer sehen können, aber nicht als eine leuchtende Kugel, sondern als zwei leuchtende Kugeln, die übereinander stehen.
»Das Merkmal der Verdopplung«, fuhr er fort, »ermöglicht dem Nagual, Dinge zu tun, die für einen normalen Zauberer zu schwierig sind. Der Nagual kennt zum Beispiel die Kraft, die uns als fest miteinander verbundene Einheit zusammenhält. Der Nagual kann seine volle Aufmerksamkeit auf sie richten und damit einen anderen lähmen. Ich habe das mit dir am Busbahnhof getan, denn ich wollte deinen Redeschwall des Ich, Ich, Ich, Ich, Ich, Ich, Ich unterbrechen. Du solltest mich finden und mit dem Unsinn aufhören.
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Die Unendlichkeit
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Don Juan erläuterte mir dann, sobald man eine bestimmte Schwelle der Unendlichkeit entweder bewußt oder wie in meinem Fall unbewußt überschreitet, gehört alles, was einem danach widerfährt, nicht länger ausschließlich der eigenen Sphäre an. Man gelangt in das Reich der Unendlichkeit.
»Als wir uns in Arizona begegneten, haben wir beide eine bestimmte Schwelle überschritten«, fuhr er fort.
Ȇber diese Schwelle hatte nicht einer von uns beiden entschieden, sondern die Unendlichkeit.
Alles, was uns umgibt, ist Unendlichkeit.« Bei diesen Worten breitete er die Arme aus. »Die Zauberer
meiner Tradition sprechen von Unendlichkeit, von Geist, von dem dunklen Meer des Bewußtseins und sagen, daß es etwas ist, das sich dort draußen befindet und über unser Leben herrscht.«
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Er antwortete, seine und meine Schritte seien von der Unendlichkeit gelenkt worden. Die scheinbar vom Zufall bestimmten Umstände seien in Wahrheit vom Wirken der Unendlichkeit bestimmt worden. Er nannte es das Wollen.
»Uns hat das Wollen der Unendlichkeit zusammengeführt«, sagte er. »Es ist unmöglich zu bestimmen,
was dieses Wollen der Unendlichkeit ist. Doch es ist vorhanden, und zwar ebenso offensichtlich wie du und ich. Die Zauberer sagen, es ist ein Beben in der Luft. Der Vorteil der Zauberer besteht darin, daß sie wissen, es gibt das Beben in der Luft, und daß sie sich ihm ohne weitere Umstände fügen. Für Zauberer gibt es kein Überlegen, Fragen oder Spekulieren. Sie wissen, alles, was ihnen bleibt, ist die Möglichkeit, sich mit dem Wollen der
Unendlichkeit zu vereinen. Und genau das tun sie.«
»Du weißt bereits, daß ein Abschnitt in deinem Leben zu Ende geht. Aber eine Ära geht erst dann wirklich zu Ende, wenn der König stirbt.«
»Was meinst du damit, Don Juan?«
»Du bist der König, und du bist wie deine Freunde. Das ist die Wahrheit, die dich bis ins Innerste erschüttert. Alles, was du tun kannst, ist, das als eine Tatsache zu akzeptieren, was du natürlich nicht kannst. Das andere, was du tun kannst, ist, dir zu sagen: ›Ich bin nicht so. Ich bin nicht so.‹ Wiederhole dir, daß du nicht so bist. Ich verspreche dir allerdings, es wird der Moment kommen, in dem du erkennst, daß du so bist.«
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Der Tod
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»Ich habe den Tod als eine von außen einwirkende Kraft gesehen, die deinen Freund bereits öffnete«, hatte er zu mir gesagt. »Jeder von uns besitzt eine energetische Spalte, einen energetischen Riß unterhalb des Nabels. Dieser Riß, den die Zauberer als die Lücke bezeichnen, ist geschlossen, wenn ein Mensch voll im Leben steht.«
Er sagte, für Zauberer sei normalerweise nur eine schwache Verfärbung in der ansonsten weißlich schimmernden leuchtenden Kugel zu erkennen. Aber wenn jemand dem Tod nahe sei, werde die Lücke deutlich. Er versicherte mir, daß die Lücke meines Freundes weit offen klaffe.
»Was hat das alles zu bedeuten, Don Juan?« hatte ich leichthin gefragt.
»Es hat eine vernichtende Bedeutung«, erwiderte er.
»Der Geist gab mir zu erkennen, daß sich etwas dem Ende, näherte. Ich dachte, mein Leben gehe zu Ende, und fand mich so gut wie möglich damit ab.
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Trauer ist eine Kraft
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Die Zauberer der alten Zeit, die uns den ganzen Umfang der Zauberei erschlossen haben, waren der Ansicht, daß es im Universum Trauer als eine Kraft gibt, als einen Zustand, so wie das Licht, wie das Wollen. Diese immerwährende Kraft, sagten sie, wirkt vor allem auf Zauberer, weil sie keine Schutzschilde mehr haben. Sie können sich nicht hinter ihren Freunden oder ihren Forschungen verschanzen. Sie können nicht Liebe, Haß, Glück oder Leid vorschieben. Sie können sich hinter nichts verstecken.
Die Zauberer befinden sich in einer Lage«, fuhr Don Juan fort, »in der Trauer für sie etwas Abstraktes ist. Trauer entsteht nicht dadurch, daß man etwas haben will oder daß etwas fehlt oder aus Eigendünkel. Trauer kommt nicht aus dem Ich. Sie kommt aus der Unendlichkeit. Deine Trauer darüber, daß du dich bei deinem Freund nicht bedankt hast, weist bereits in diese Richtung.
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Die Stille
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Don Juan definierte innere Stille als einen besonderen Seinszustand, in dem die Gedanken ausgeschaltet sind und man aus einer anderen Ebene heraus und nicht durch das alltägliche Bewußtsein agiert. Er betonte, innere Stille bedeute die Unterbrechung des inneren Dialogs, der ständig alle Gedanken begleitet, und sei deshalb ein Zustand umfassender Stille.
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»Die alten Zauberer«, sagte Don Juan, »sprachen von innerer Stille, denn es handelt sich um einen Zustand, bei dem die Wahrnehmung nicht von den Sinnen abhängig ist. Während der inneren Stille ist eine andere Fähigkeit am Werk, die der Mensch besitzt und die ihn zu einem magischen Wesen macht. Genau diese Fähigkeit ist eingeschränkt, aber nicht durch den Menschen, sondern durch einen äußeren Einfluß.«
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»Was ist das für ein Einfluß, der die magischen Fähigkeiten des Menschen einschränkt?« wollte ich wissen.
»Auf dieses Thema werde ich in Zukunft noch eingehen«, erwiderte Don Juan. »Bei unserem Gespräch geht es diesmal nicht darum, obwohl es einer der wichtigsten Aspekte der Zauberei der Schamanen des alten Mexiko ist. Innere Stille«, fuhr er fort, »ist der Punkt, von dem alles in der Zauberei ausgeht. In anderen Worten, alles, was wir tun, führt zu diesem Punkt, der sich wie auch alles andere in der Welt der Zauberer erst dann zeigt, wenn uns etwas Gewaltiges erschüttert.«
Don Juan sagte, die Zauberer im alten Mexiko hätten zahllose Möglichkeiten entwickelt, um sich oder andere Zauberer bis aufs tiefste zu erschüttern, um den erwünschten Zustand der inneren Stille zu erreichen. Sie benutzten die ausgefallensten Dinge, die in keinerlei Beziehung zur inneren Stille zu stehen scheinen, als Schlüssel, um diesen Zustand herbeizuführen. Sie sprangen etwa in einen Wasserfall oder hingen eine ganze Nacht lang mit dem Kopf nach unten am obersten Ast eines Baums.
Entsprechend der Logik der Zauberer im alten Mexiko erklärte Don Juan kategorisch, innere Stille werde angesammelt und wachse heran. In meinem Fall bemühte er sich darum, mich so weit zu bringen, daß ich in mir einen Kern der inneren Stille aufbauen und ihn bei jeder Gelegenheit, in der ich mich darin übte, Sekunde um Sekunde vergrößern konnte.
Er erklärte, die Zauberer im alten Mexiko hätten herausgefunden, daß jeder Mensch in Hinblick auf die Zeit eine unterschiedliche Schwelle der inneren Stille habe, was soviel bedeutet, jeder muß entsprechend der Länge seiner spezifischen Schwelle die innere Stille halten, bevor sie wirksam werden kann.
»Was war für jene Zauberer das Zeichen, daß die innere Stille wirksam ist, Don Juan?« fragte ich.
»Innere Stille wird von dem Augenblick an wirksam, in dem man beginnt, sie anzusammeln«, erwiderte er. »Das Streben der alten Zauberer richtete sich darauf, das entscheidende dramatische Ergebnis, die individuelle Schwelle der Stille zu erreichen. Manche sehr begabte Zauberer brauchen nur wenige Minuten der Stille, um das erwünschte Ziel zu erreichen. Andere, weniger talentierte brauchen dazu lange Zeiten der Stille, vielleicht mehr als eine Stunde völligen Schweigens. Das angestrebte Ergebnis nannten die alten Zauberer das Anhalten der Welt. Es ist der Augenblick, wenn alles um uns herum aufhört, das zu sein, was es immer gewesen ist.
Es ist der Augenblick, wenn die Zauberer zum wahren Wesen des Menschen zurückkehren«, fuhr Don Juan fort.
»Die alten Zauberer nannten das auch die völlige Freiheit. In diesem Augenblick wird aus dem Menschen, der ein Sklave ist, das freie Wesen Mensch, das zu Meisterstücken der Wahrnehmung fähig ist, die unserer linearen Vorstellung widersprechen.«
Don Juan versicherte mir, die innere Stille sei der Weg, um das eigene Urteilsvermögen tatsächlich außer Kraft zu setzen. Sie führe zu dem Augenblick, wo die sensorischen Daten, die aus dem gesamten Universum kommen, nicht mehr von den Sinnen interpretiert würden. Es sei ein Moment, in dem die Wahrnehmung aufhöre, die Kraft zu sein, die durch Gebrauch und Wiederholung das Wesen der Welt bestimmt.
»Die Zauberer brauchen eine Krise, damit das Wirken der inneren Stille beginnt«, sagte Don Juan. »Die Krise ist wie Mörtel, den der Maurer zwischen die Steine bringt. Erst wenn der Mörtel hart geworden ist, wird aus den losen Steinen eine Mauer.«
Don Juan hatte mir von Anfang unserer Beziehung an den Wert und die Notwendigkeit der inneren Stille eingehämmert. Ich gab mir größte Mühe, seinen Ratschlägen zu folgen, um innere Stille anzusammeln, und das geschah buchstäblich Sekunde um Sekunde. Ich hatte keine Möglichkeit, die Wirkung des Sammelns zu überprüfen, und ich konnte auch nicht beurteilen, ob ich irgendeine Schwelle erreicht hatte oder nicht. Ich bemühte mich einfach verbissen darum, daß die innere Stille zunahm. Ich tat es nicht nur, um Don Juan zufriedenzustellen, sondern weil das Ansammeln an sich für mich zu einer Herausforderung geworden war.
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Verlass all deine Freunde
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Alles, was du tust, weist auf einen einzigen Punkt: Du mußt rücksichtslos Schluß damit machen.«
»Aber in welcher Weise, Don Juan? An was denkst du?« fragte ich erschrocken.
»Ich glaube, es läuft alles auf einen einzigen Schritt hinaus«, antwortete er. »Du mußt deine Freunde verlassen. Du mußt dich endgültig von ihnen verabschieden. Es ist dir nicht möglich, auf dem Weg des Kriegers weiterzugehen und dabei deine persönliche Geschichte mit dir herumzuschleppen. Wenn du deine Lebensweise nicht änderst, werde ich dir keine weiteren Unterweisungen mehr geben können.«
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»Aber, aber Don Juan«, sagte ich. »Da muß ich Einspruch erheben. Du verlangst zuviel von mir. Um offen zu sein, ich glaube, das kann ich nicht tun. Meine Freunde sind meine Familie. Sie sind meine Bezugspunkte.«
»Richtig, richtig«, bemerkte er. »Sie sind deine Bezugspunkte. Deshalb mußt du auf sie verzichten. Zauberer haben nur einen Bezugspunkt – die Unendlichkeit.«
»Aber was soll ich tun, Don Juan?« fragte ich mit klagender Stimme. Seine Forderung machte mich wütend.
»Du mußt einfach gehen«, erklärte er nüchtern. »Wie du das machst, darauf kommt es nicht an. Geh einfach!«
»Aber wohin soll ich gehen?« fragte ich.
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»Ich empfehle dir, nimm ein Zimmer in einem der billigen Hotels, die du kennst«, sagte er. »Je häßlicher es ist, desto besser. Wenn das Zimmer einen schmutziggrünen Teppich, schmutziggrüne Vorhänge und schmutziggrüne Wände hat, um so besser. Es sollte ein Hotel sein wie das, das ich dir einmal in Los Angeles gezeigt habe.«
Ich lachte nervös bei der Erinnerung daran, wie ich mit Don Juan einmal durch das Industriegebiet von Los Angeles gefahren war, wo es nur Lagerhäuser und schäbige Hotels für Durchreisende gab. Besonders ein Hotel zog die Aufmerksamkeit von Don Juan auf sich, weil es einen so pompösen Namen hatte: ›Edward VII.‹ Wir hielten auf der anderen Straßenseite an und betrachteten es einen Augenblick.
»Das Hotel dort«, erklärte Don Juan und deutete darauf, »ist für mich die wahre Verkörperung des Erdenlebens eines durchschnittlichen Menschen. Wenn du Glück hast oder rücksichtslos bist, bekommst du ein Zimmer mit Blick auf die Straße. Von dort siehst du die endlose Parade menschlichen Elends. Wenn du kein Glück hast oder nicht rücksichtslos genug bist, bekommst du ein Zimmer auf der Rückseite mit Fenstern, die auf die Wand des nächsten Hauses gehen. Stell dir vor, dein Leben hin und her gerissen zwischen den beiden Aussichten zu verbringen. Wenn du ein Zimmer auf der Rückseite hast, möchtest du den Blick zur Straße. Wenn du ein Zimmer mit Blick zur Straße hast, möchtest du ein Zimmer auf der Rückseite, weil du es leid bist, auf die Straße zu schauen.«
Don Juans Metapher ließ mich nicht mehr los, denn ich hatte sie sehr wohl begriffen.
Konfrontiert mit der Aussicht, ein Zimmer in einem Hotel von der Art des Edward VII. nehmen zu müssen, wußte ich nicht, was ich sagen oder tun sollte.»Was soll ich dort machen, Don Juan?« fragte ich.
»Ein Zauberer benutzt einen solchen Platz, um zu sterben«, sagte er und sah mich durchdringend an. »Du bist nie in deinem Leben allein gewesen. Jetzt ist es soweit, genau das zu tun. Du wirst in diesem Zimmer bleiben, bis du stirbst.«
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Seine Forderung machte mir angst, aber gleichzeitig mußte ich lachen.
»Ich will nicht sagen, ich werde es tun, Don Juan«, erklärte ich, »aber welches Kriterium verrät mir, daß ich tot bin …, es sei denn, du möchtest, daß ich körperlich sterbe.«
»Nein«, sagte er. »Ich möchte nicht, daß dein Körper stirbt. Ich möchte, daß deine Person stirbt. Das sind zwei verschiedene Dinge. In Wirklichkeit hat deine Person sehr wenig mit deinem Körper zu tun. Deine Person ist dein Bewußtsein. Und das kannst du mir glauben, dein Bewußtsein gehört dir nicht.«
»Das ist doch Unsinn, Don Juan, daß mein Bewußtsein nicht mir gehört!« hörte ich mich mit einem nervösen Unterton sagen.
»Ich werde eines Tages mit dir darüber sprechen«, sagte er, »aber nicht, solange du von deinen Freunden umgeben bist.
Das Kriterium für den Tod eines Zauberers«, fuhr er fort, »ist es, daß es für ihn keinen Unterschied macht, ob er allein oder in Gesellschaft ist. An dem Tag, an dem du nicht die Gesellschaft deiner Freunde suchst, die du als Schutzschilde benutzt, an diesem Tag ist deine Person gestorben. Was sagst du dazu? Bist du bereit?«
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Eine Methode der inneren Stille
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Don Juan hatte mir eine Methode gezeigt, die das Finden der inneren Stille fördern sollte. Ich setzte mich also mit angewinkelten Knien auf das Bett, so daß sich die Sohlen der Füße berührten. Mit den Händen umfaßte ich die Fußgelenke und drückte die Füße aneinander. Er hatte mir einen dicken Holzpflock gegeben, den ich immer bei mir trug, wohin ich auch ging. Das Holz war etwa fünfunddreißig Zentimeter lang. Wenn ich mich vorbeugte und das Holz zwischen die Füße stellte, konnte ich den Kopf darauf abstützen. Dazu legte ich den Punkt mitten auf der Stirn auf das gepolsterte obere Ende des Pflocks. In dieser Stellung fiel ich jedesmal in wenigen Sekunden in einen tiefen Schlaf.
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Die Interpretation der Wahrnehmung
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Don Juan erklärte von Beginn unserer Beziehung an, daß sich die Welt der Zauberer des alten Mexiko von der unseren unterscheide, aber nicht auf eine oberflächliche Weise, sondern in der Art und Weise, wie der Vorgang des Erkennens stattfinde. Er behauptete, in unserer Welt verlangt unsere Wahrnehmung die Interpretation sensorischer Daten. Er sagte, das Universum setze sich aus einer unendlichen Zahl von Energiefeldern zusammen, die im gesamten Universum als leuchtende Fasern vorhanden seien. Diese leuchtenden Fasern wirken auf den Organismus Mensch. Der Organismus reagiert darauf, indem er die Energiefelder in sensorische Daten umwandelt. Die sensorischen Daten werden dann interpretiert.
Aus der Interpretation entsteht unser Erkenntnissystem. Mein Verständnis von Erkenntnis, bzw. Wahrnehmung zwang mich zu glauben, daß dies ein universaler Vorgang ist, so wie Sprache ein universaler Vorgang ist. Jede Sprache hat eine andere Syntax. Ebenso muß es für jedes Interpretationssystem in der Welt eine leicht unterschiedliche Anordnung geben.
Don Juans Behauptung, die Schamanen des alten Mexiko hätten ein anderes Erkenntnissystem gehabt, war für mich gleichbedeutend mit der Aussage, sie hätten eine andere Art der Verständigung gehabt, die nichts mit Sprache zu tun hatte. Ich hoffte verzweifelt darauf, daß er sagen würde, sie hätten ein anderes Erkenntnissystem gehabt, was gleichbedeutend mit einer anderen Sprache gewesen wäre, die jedoch trotzdem Sprache war. Das Ende einer Zeit bedeutete für Don Juan, daß die Elemente einer fremden Erkenntnis wirksam zu werden begannen. Die Elemente meiner normalen Wahrnehmung, gleichgültig wie angenehm oder befriedigend sie für mich waren, verblaßten langsam – ein sehr ernster Augenblick im Leben eines Menschen!
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Ein Beispiel ist das direkte Wahrnehmen von Energie, wie sie im Universum fließt. Das ist ein Element der Erkenntnis, nach dem sich das Leben der Schamanen ausrichtet. Sie sehen, wie Energie fließt, und sie folgen dem Fluß. Wenn das Fließen ins Stocken gerät, dann entfernen sie sich, um etwas völlig anderes zu tun.
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Schamanen sehen Bahnen im Universum. Ihre Kunst oder ihre Aufgabe besteht darin, die Bahn zu wählen, die sie auf der Ebene der Erkenntnisse zu Bereichen bringt, die keinen Namen haben. Man kann sagen, Schamanen reagieren unmittelbar auf die Bahnen des Universums. Sie sehen Menschen als leuchtende Kugeln, und sie suchen in den Kugeln das Fließen der Energie. Natürlich reagieren sie sofort auf das, was sie sehen. Es gehört zu ihrer Erkenntniswelt.«
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Wir sind Wesen, die auf dem Weg sind zu sterben
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»Wir sind Wesen, die auf dem Weg sind zu sterben«, erklärte er. »Wir sind nicht unsterblich, aber wir verhalten uns so, als ob wir das seien. Diese Schwäche ist unser Untergang als Individuen, und sie wird eines Tages unser Untergang als Menschheit sein.«
Don Juan erklärte, der Vorteil der Zauberer im Vergleich zum durchschnittlichen Menschen liege darin, daß die Zauberer wissen, daß sie Wesen sind, die sich auf dem Weg befinden zu sterben, und sie lassen sich nicht von diesem Wissen abbringen. Er betonte, es bedürfe einer sehr großen Anstrengung, das Wissen als unumstößliche Gewißheit zu haben und zu behalten.
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Schulden
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»Es ist an der Zeit, daß du gewisse Schulden begleichst, die du im Lauf deines Lebens gemacht hast«, erwiderte er. »Natürlich wirst du nicht alles bezahlen können, aber du mußt wenigstens eine Geste machen.
Du mußt eine gewisse Summe zahlen, um die Unendlichkeit auszusöhnen. Du hast mir von deinen beiden Freundinnen erzählt, die dir so viel bedeuteten – Patricia Turner und Sandra Flanagan. Es ist Zeit, daß du dich auf die Suche nach ihnen machst. Du mußt zu ihnen gehen und jeder der beiden Frauen ein Geschenk machen, das du mit all dem Geld bezahlst, das du besitzt. Es müssen zwei Geschenke sein, die so teuer sind, daß dir kein Pfennig bleibt. Das ist die Geste.«
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Die Aufgabe, deine Schulden zu begleichen, hat nichts mit Gefühlen zu tun, von denen du etwas weißt. Es geht dabei um das reinste Gefühl. Es ist das Gefühl eines Krieger-Wanderers, der dabei ist, in die Unendlichkeit einzutauchen. Bevor er das tut, dreht er sich noch einmal um und bedankt sich bei all denen, die ihm geholfen haben.
Du mußt dich dieser Aufgabe mit dem ganzen Ernst widmen, den sie verdient«, fuhr er fort. »Es ist die letzte Station, bevor dich die Unendlichkeit verschlingt. Die Unendlichkeit wird einen Krieger-Wanderer nicht mit der Kneifzange anfassen, wenn er sich nicht in einem geläuterten Seinszustand befindet. Also schone dich nicht. Gib dir alle erdenkliche Mühe. Verfolge die Sache rücksichtslos, aber mit Bravour bis zum Ende.«
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Tu mir den Gefallen«, fuhr er fort, »und mach etwas sehr Einfaches und Ehrliches, das alles für dich bedeuten kann: Lösch in deiner Erinnerung an die beiden Frauen alle Aussagen, die du in deinem Selbstdialog gemacht hast und die etwa so aussehen: ›Sie hat dies oder jenes zu mir gesagt, und sie hat geschrien, und dann hat die andere MICH angeschrien!‹ Und bleibe auf der Ebene deiner Gefühle. Kannst du mir sagen, was ohne deine Selbstüberschätzung als unveränderlicher Rest bleibt?«
»Meine unbeeinflußbare Liebe«, erwiderte ich beinahe unter Tränen.
»Und hat sich diese Liebe heute gegenüber damals verringert?« fragte Don Juan.
»Nein, bestimmt nicht, Don Juan«, erwiderte ich in aller Aufrichtigkeit und spürte wieder die Qual, die mich seit Jahren nicht losließ.
Diesmal mußt du sie aus deiner Stille heraus umarmen«, sagte er. »Sei kein alberner Dummkopf. Umarme sie zum letzten Mal ohne alle Vorbehalte. Aber du mußt wollen, daß es das letzte Mal auf Erden ist. Du mußt es aus deiner Dunkelheit heraus wollen.
Falls etwas los ist mit dir«, fuhr er fort, »dann faßt du dein ganzes Leben zweimal zusammen, wenn du ihnen ein Geschenk machst. Solche Handlungen machen einen Krieger leicht, fast so leicht wie Luft.«
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Wenn ein Zauberer sich verabschieden und sich bedanken wolle, und wenn er es aufrichtig meine und seinen Entschluß auch durchführen werde, so meinte Don Juan, dann müsse er sich neu erschaffen.
»Distanziere dich auf der Stelle von deinem Selbstmitleid«, befahl er mir. »Hör auf, dir einzureden, du seist verletzt, und dann frage dich, was wirklich als Rest bleibt.«
Als Rest blieb mir das Gefühl, daß ich beiden Frauen mein schönstes Geschenk gemacht hatte, aber nicht in der Absicht, etwas zu erneuern oder jemanden zu verletzen, einschließlich meiner selbst, sondern in der aufrichtigen Haltung, die mir Don Juan gezeigt hatte – in der Haltung eines Krieger-Wanderers, dessen einzige Tugend es ist, die Erinnerung an das lebendig zu erhalten, was ihn berührt hat, und dessen einzige Art eines Danks und eines Abschieds die magische Handlung war, in seiner Stille das zu bewahren, was er geliebt hat.
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Rekapitulation
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Die Art und Weise, in der Zauberer die Rekapitulation durchführen, ist sehr formal«, fuhr er fort. »Sie besteht darin, daß man eine Liste all der Menschen erstellt, die man von der Gegenwart bis ganz an den Anfang seines Lebens getroffen hat. Sobald man mit der Zusammenstellung fertig ist, beginnt man mit der ersten Person auf der Liste und ruft sich über diese Person alles ins Gedächtnis, woran man sich erinnern kann. Und ich meine wirklich alles, jede Einzelheit. Es fällt leichter, die Rekapitulation in der Gegenwart zu beginnen, denn die Erinnerungen an die Gegenwart sind frisch. Auf diese Weise wird die Fähigkeit, sich zu erinnern, geschärft. Das geht so: Man erinnert sich und atmet. Man atmet langsam und bewußt ein, bewegt den Kopf dabei kaum wahrnehmbar schwingend von rechts nach links und atmet auf dieselbe Weise aus.«
Er erklärte mir, das Einatmen und Ausatmen soll ganz natürlich geschehen. Wenn man zu schnell atmet, entsteht eine Tendenz, die er ermüdendes Atmen nannte. Damit meinte er Atemzüge, nach denen man wieder langsamer atmen muß, um die Muskeln zu entspannen.
»Und was soll ich deiner Meinung nach mit all den Erinnerungen anfangen, Don Juan?« fragte ich.
»Du fängst heute zunächst einmal damit an, die Liste zusammenzustellen«, erwiderte er. »Unterteile sie in Jahre oder nach Berufen. Du kannst sie nach jedem beliebigen Ordnungsschema zusammenstellen, aber mache sie fortlaufend, das heißt, beginne die Liste mit dem Menschen, den du gerade kennengelernt hast, und beende sie mit Vater und Mutter. Und dann erinnerst du dich an alles, was die Person betrifft, nichts weiter. Während du übst, wirst du begreifen, was du tust.«
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Wichtig für die Rekapitulation
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Er erklärte, daß die altmexikanischen Zauberer sahen, daß das ganze Universum aus Energiefeldern in Form leuchtender Fasern besteht. Wo immer sie sich hinwandten, sahen sie Milliarden davon. Und sie sahen, daß sich diese Energiefelder zu Strömen leuchtender Fäden ordnen, die konstante, nie versiegende Kräfte des Universums sind. Die Zauberer nannten den Strom oder den Fluß der Fasern, der in Zusammenhang mit der Rekapitulation steht, das dunkle Meer des Bewußtseins und auch den Adler.
Er sagte, diese Zauberer hätten auch entdeckt, daß jedes Lebewesen im Universum mit dem dunklen Meer des Bewußtseins an einem runden leuchtenden Punkt verbunden ist, der sichtbar wird, wenn diese Lebewesen als Energie wahrgenommen werden. An diesem leuchtenden Punkt, erklärte Don Juan, den die Zauberer im alten Mexiko den Montagepunkt nannten, wird die Erkenntnisfähigkeit von einem geheimnisvollen Aspekt des dunklen Meeres des Bewußtseins zusammengesetzt.
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Don Juan behauptete, daß am Montagepunkt der Menschen unzählige Energiefelder aus dem gesamten Universum in Form leuchtender Fasern zusammenlaufen und durch ihn hindurchfließen. Die Energiefelder werden in sensorische Daten umgewandelt. Diese sensorischen Daten werden dann als die Welt, die wir kennen, interpretiert und wahrgenommen. Don Juan erklärte, daß es das dunkle Meer des Bewußtseins ist, das die leuchtenden Fäden in sensorische Daten umwandelt. Zauberer sehen diese Umwandlung und nennen sie das Leuchten der Erkenntnisfähigkeit. Dabei handelt es sich um einen Glanz, der den Montagepunkt wie ein Lichtkranz umgibt. Dann kündigte er an, er werde eine Aussage machen, der nach dem Verständnis der Zauberer beim Begreifen der Tragweite der Rekapitulation eine zentrale Bedeutung zukomme.
Er gab seinen Worten einen ungeheuren Nachdruck, als er erklärte, was wir an Organismen als die Sinne bezeichneten, sei nichts anderes als Stufen des Bewußtseins.
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»Wenn wir akzeptieren«, fuhr er fort, »daß die Sinne das dunkle Meer des Bewußtseins sind, müssen wir ebenfalls sagen, daß die Interpretation, welche die Sinne sensorischen Daten gibt, ebenfalls das dunkle Meer des Bewußtseins ist.« Danach erklärte er ausführlich, das Interpretationssystem der Menschheit, das jeder Mensch in sich trägt, sei dafür verantwortlich, daß wir die Welt um uns herum in den Begriffen wahrnehmen, wie wir es tun. Und er sagte, jeder existierende Organismus muß ein Interpretationssystem besitzen, das ihm erlaubt, in seiner Umgebung zu funktionieren.
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»Die Zauberer, die nach den apokalyptischen Umwälzungen kamen, von denen ich gesprochen habe«, fuhr er fort, »haben gesehen, daß das dunkle Meer des Bewußtseins im Augenblick des Todes das Bewußtsein lebender Geschöpfe durch den Montagepunkt sozusagen in sich aufsaugt. Außerdem haben sie gesehen, daß das dunkle Meer des Bewußtseins bei Zauberern, die einen Bericht ihres Lebens erstellt hatten, einen Augenblick, sagen wir, mit dem Aufsaugen zögerte. Manche hatten es unwissentlich so gründlich getan, daß das dunkle Meer des Bewußtseins ihr Bewußtsein in Form ihrer Lebenserfahrungen in sich aufnahm, ihre Lebenskraft jedoch unangetastet ließ. Die Zauberer hatten damit eine ungeheure Wahrheit über die Kräfte des Universums entdeckt. Das dunkle Meer des Bewußtseins will nur unsere Lebenserfahrungen, nicht unsere Lebenskraft.«
Die Prämissen von Don Juans Ausführungen waren mir unverständlich. Vielleicht wäre es genauer, wenn ich sage, daß mir unbestimmt und doch vollkommen bewußt war, wie funktional die Prämissen seiner Erklärungen waren.
»Die Zauberer glauben«, fuhr Don Juan fort, »wenn wir unser Leben rekapitulieren, gelangen alle Bruchstücke, gelangt aller Schutt an die Oberfläche. Wir erkennen unsere Widersprüche und unsere Wiederholungen. Doch etwas in uns leistet der Rekapitulation großen Widerstand. Zauberer sagen, die Straße ist erst nach einer ungeheuren Umwälzung frei, nachdem auf dem Monitor unserer Erinnerungen ein Ereignis auftaucht, das uns mit seiner erschreckenden Klarheit der Einzelheiten bis in die Grundfesten erschüttert. Das Ereignis zieht uns praktisch zu dem Augenblick, an dem wir es erlebt haben. Zauberer nennen dieses Ereignis das Öffnen, denn danach wird jedes Ereignis, das wir berühren, wiedererlebt und nicht nur erinnert.
Gehen beschwört immer Erinnerungen herauf«, fuhr Don Juan fort. »Die Zauberer im alten Mexiko glaubten, daß wir alles, was wir erleben, als ein Gefühl auf der Rückseite der Beine speichern. Für sie war die Rückseite der Beine das Lager der persönlichen Geschichte des Menschen.
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Rekapitulieren der Teile eines Puzzles
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»damit du bereit bist, dieses Manöver eines Zauberers zu beginnen und einen Öffner zu finden – ein Ereignis in deinem Leben, an das du dich mit solcher Klarheit erinnerst, daß es als Scheinwerfer dient, um alles andere bei deiner Rekapitulation mit derselben oder mit vergleichbarer Klarheit zu beleuchten. Mach das, was die Zauberer das Rekapitulieren der Teile eines Puzzles nennen. Irgend etwas wird dich dahin führen, daß du dich an das Ereignis erinnerst, das als dein Öffner fungieren wird.« Er gab mir noch eine letzte Ermahnung, bevor er mich allein ließ.»Versuch dein Bestes«, sagte er. »Tu dein Bestes.«
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»Ereignisse wiederzuerfahren, ist für Zauberer Magie«, sagte er. »Es geht dabei nicht nur um das Wiedererzählen von Geschichten. Es kommt auf das Sehen der Struktur hinter den Ereignissen an.
Deshalb ist das Wiedererfahren so wichtig und öffnet ein so unermeßliches Feld.«
Don Juan forderte mich auf, ihm den Vorfall zu erzählen, an den ich mich erinnert hatte.
»Wie passend«, sagte er und lachte leise und vergnügt.
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»Dazu kann ich nur sagen, ein Krieger-Wanderer ist beweglich. Er geht dahin, wohin der Impuls ihn führt. Die Macht des Krieger-Wanderers beruht darauf, daß er wachsam ist und daß er die größtmögliche Wirkung aus einem winzigen Impuls zieht. Vor allem liegt seine Macht darin, daß er nicht eingreift. Ereignisse haben eine Kraft, ihre eigene Schwerkraft, und ein Wanderer ist nur ein Wanderer. Alles um ihn herum ist nur für seine Augen bestimmt. Auf diese Weise deutet der Wanderer den Sinn jeder Situation, ohne je zu fragen, wie es so oder so dazu gekommen ist.
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Heute hast du dich an ein Ereignis erinnert, das dein ganzes Leben auf den Punkt bringt«, fuhr er fort. »Du stehst noch immer vor einer Situation, die die gleiche geblieben ist und die du nie aufgelöst hast. Du mußtest nie wirklich entscheiden, ob du Falelo Quirogas krummes Spiel annimmst oder ablehnst.
Die Unendlichkeit bringt uns jedoch immer in die schreckliche Lage, eine Entscheidung treffen zu müssen. Wir wollen die Unendlichkeit, gleichzeitig wollen wir aber auch vor ihr davonlaufen. Du willst mir sagen, du möchtest davonlaufen und dich in einen See stürzen, aber gleichzeitig fühlst du dich zum Bleiben gezwungen. Es wäre für dich unendlich leichter, wenn du nur zum Bleiben gezwungen wärst.«
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»Die Rekapitulation erschließt eine geheime Alternative«, sagte Don Juan, »so wie es eine geheime Alternative zum Sterben gibt, die nur Zauberer nutzen. Im Falle des Sterbens besteht die Alternative darin, daß die Menschen ihre Lebenskraft behalten und nur ihr Bewußtsein, das Produkt ihres Lebens aufgeben. Im Falle der Rekapitulation besteht die geheime Alternative, die nur Zauberer genutzt haben, darin, das wahre Bewußtsein zu steigern.
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Die eindringliche Qualität deiner Erinnerungen«, fuhr er fort, »konnte nur von deinem wahren Bewußtsein kommen. Ich würde sagen, das andere Bewußtsein, das wir alle haben und teilen, ist ein Billigmodell, eine Sparversion in einer einzigen Größe, die für alle paßt. Für dich geht es jetzt um das Auftauchen einer auflösenden Kraft. Es ist keine Kraft, die dich auflöst –, so meine ich das nicht. Sie löst das auf, was die Zauberer den Fremdkörper nennen, den es in dir und in jedem anderen Menschen gibt. Die Kraft, die über dich kommt und den Fremdkörper auflöst, hat die Wirkung, die Zauberer aus ihrer Sprache herauszureißen.«
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Don Juan hatte recht, denn auch ich war nicht in der Lage, die Wirkung dieser Erinnerungen auf mich zu erklären oder zu beschreiben. Don Juan hatte mir gesagt, daß Zauberer in den gewöhnlichsten Ereignissen, die man sich vorstellen kann, dem Unbekannten gegenüberstehen. Wenn sie damit konfrontiert sind und nicht interpretieren können, was sie wahrnehmen, müssen sie sich auf eine äußere Quelle verlassen, die ihnen Richtlinien gibt. Don Juan hatte diese Quelle Unendlichkeit genannt oder die Stimme des Geistes. Er hatte gesagt, wenn Zauberer nicht versuchen, rational an etwas heranzugehen, was sich rational nicht erklären lasse, sage ihnen der Geist unfehlbar alles, was sie darüber wissen müssen.
Don Juan hatte mich gelehrt, die Vorstellung zu akzeptieren, daß die Unendlichkeit eine Kraft ist, die eine Stimme hat und die sich ihrer selbst bewußt ist. Folglich hatte er mich darauf vorbereitet, auf diese Stimme zu hören und stets effizient zu handeln, allerdings ohne mich dabei auf frühere Umstände zu beziehen und mich dabei sowenig wie möglich am Geländer des a priori festzuhalten.
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»Du suchst wie üblich Erklärungen für die linearen Ursachen und Wirkungen. Jede deiner Erinnerungen wird lebendiger und ungestümer, weil du dich, wie ich dir bereits gesagt habe, in einem unumkehrbaren Prozeß befindest. Dein wahres Bewußtsein tritt in Erscheinung. Es erwacht aus einem Zustand lebenslanger Lethargie.
Die Unendlichkeit erhebt Anspruch auf dich«, fuhr er fort. »Ganz gleich, zu welchen Mitteln sie greift, um dir zu zeigen, daß du keinen anderen Grund, keinen anderen Zweck, keinen anderen Wert als das haben kannst. Aber du solltest auf den immer neuen Ansturm der Unendlichkeit vorbereitet sein. Du mußt dich im Zustand ständiger Bereitschaft für einen Schlag von ungeheurer Gewalt befinden. Das ist die vernünftige und nüchterne Art, wie Zauberer der Unendlichkeit gegenübertreten.«
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Er hatte gesagt, mein ganzes Tun müsse das Tun eines Zauberers sein. Das Tun dürfe nicht von Erwartungen, von der Angst vor dem Versagen und von der Hoffnung auf Erfolg beeinträchtigt werden. Es müsse frei sein von meinem Ich-Kult. All mein Tun, so forderte er, müsse spontan und unvorbereitet sein – ein magischer Akt, bei dem ich mich voll den Kräften des Unendlichen öffne.
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Die innere Stille
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Don Juan hatte mir erklärt, die Zauberer seiner Tradition schätzen an der inneren Stille am meisten ein bestimmtes Zusammenspiel der Energie, das immer von einem starken Gefühl angekündigt wird. Er war der Ansicht, meine Erinnerungen seien das Mittel, um mich innerlich so extrem zu erregen, daß ich dieses Zusammenspiel erleben würde. Ein solches Zusammenspiel, sagte er, manifestiere sich in Farben, die an jeden beliebigen Horizont der Alltagswelt projiziert würden, sei es auf einen Berg, an den Himmel, auf eine Mauer oder einfach auf die Handfläche. Don Juan hatte erklärt, daß das Zusammenspiel der Farben mit dem Auftauchen eines zarten lavendelblauen Pinselstrichs am Horizont beginne. Allmählich vergrößere sich der Pinselstrich, bis er den gesamten sichtbaren Horizont wie aufziehende Sturmwolken bedecke.
Er sagte, dann tauche ein Punkt von einem eigenartig satten Granatapfelrot auf, der aus den lavendelblauen Wolken hervorzubrechen scheine. Mit zunehmender Disziplin und Erfahrung des Zauberers vergrößere sich der granatapfelrote Punkt und berste schließlich in Gedanken oder Visionen oder bei einem Literaten in geschriebene Worte. Zauberer hätten entweder Visionen, hörten gesprochene Gedanken oder würden geschriebene Worte lesen. Das alles sei ein von Energie hervorgerufenes Phänomen.
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Ob du die Projektion verstehst oder nicht«, fuhr er fort, »das ist eine andere Sache. Um eine genaue Interpretation vornehmen zu können, brauchst du Erfahrung. Ich empfehle dir, keine Scheu zu haben und gleich anzufangen. Lies die Energie an der Wand! Dein wahres Bewußtsein kommt zum Vorschein, und es hat nichts mit dem Bewußtsein zu tun, das ein Fremdkörper ist. Laß die Geschwindigkeit von deinem wahren Bewußtsein sich selbst regeln. Sei still und reg dich nicht auf, ganz gleich, was geschieht.«
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»Aber Don Juan, ist das alles möglich? Kann man Energie wie einen Text lesen?« fragte ich, überwältigt von dieser Vorstellung. »Natürlich ist es möglich!« erwiderte er. »In deinem Fall ist es nicht nur möglich, es geschieht.«
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»Wieso soll ich Energie lesen, als wäre sie ein Text?« fragte ich hartnäckig – aber die Hartnäckigkeit war rhetorisch. »Das ist dein übertriebener Hang dazu«, sagte er. »Wenn du den Text liest, könntest du ihn wörtlich wiederholen. Solltest du allerdings versuchen, anstelle eines Lesers der Unendlichkeit ein Betrachter der Unendlichkeit zu sein, würdest du feststellen, daß du nicht beschreiben könntest, was du siehst, und du würdest ungereimtes Zeug reden und unfähig sein, die Dinge in Worte zu fassen, deren Zeuge du bist. So wäre es auch, wenn du versuchen würdest, die Energie zu hören.
Es ist ohnehin die Unendlichkeit, die entscheidet. Der Krieger-Wanderer fügt sich einfach der Entscheidung.
Aber vor allem«, fuhr er nach einer wohlberechneten Pause fort, »laß dich nicht von dem Ereignis überwältigen, weil du es nicht beschreiben kannst. Es ist ein Ereignis jenseits der Syntax unserer Sprache.«
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Auf den Flügeln der Stille reisen
Für mich als Zauberer war das, was für dich bei unserem Treffen in dieser Stadt eine Traumphantasie war, so real, wie wir es beide sind, während wir uns heute hier unterhalten.«
Ich gestand Don Juan, daß ich keine Möglichkeit hatte, diese Ereignisse in einen gedanklichen Rahmen zu bringen, der einem westlichen Menschen angemessen war. Ich erklärte, die Ereignisse in Begriffen von Traumphantasien zu sehen, schaffe eine falsche Kategorie, die einer genaueren Betrachtung nicht standhalte. Die einzige Quasierklärung, die halbwegs möglich wäre, sei ein anderer Aspekt seines Wissens – das Träumen.
»Nein, es hat nichts mit dem Träumen zu tun«, widersprach er mit Nachdruck. »Dies ist etwas Direkteres und Geheimnisvolleres. Übrigens habe ich heute für dich eine neue Definition von Träumen, die mehr mit deinem Bewußtseinszustand in Einklang steht. Träumen ist der Vorgang, bei dem der Verbindungspunkt mit dem dunklen Meer des Bewußtseins verschoben wird. So betrachtet, ist es ein sehr einfaches Konzept und ein sehr einfacher Vorgang. Es erfordert alle Fähigkeiten, die man hat, das zu begreifen, aber es ist keine Unmöglichkeit, und es ist auch nicht von mystischen Wolken verschleiert.
Der Ausdruck Träumen hat mich immer sehr irritiert«, fuhr er fort, »denn er schwächt einen sehr starken Vorgang ab. Träumen klingt wie etwas Beliebiges und vermittelt das Gefühl, es handle sich um eine Phantasie. Und das ist das Einzige, was Träumen nicht ist. Ich habe versucht, den Begriff zu ändern, aber er ist zu tief verwurzelt. Vielleicht könntest du es eines Tages tun, obwohl ich fürchte, du wirst dir nicht die Mühe machen. Wie es bei allen anderen Dingen in der Zauberei der Fall ist, wird es dir völlig gleichgültig sein, wenn du einmal so weit bist, daß du es tatsächlich tun könntest.«
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In all der Zeit, die ich Don Juan kannte, hatte er immer wieder ausführlich erklärt, Träumen sei eine von den Zauberern des alten Mexiko entdeckte Kunst, mit der man normale Träume verwandeln kann, so daß sie wirklich Tore zu anderen Welten der Wahrnehmung werden. Er vertrat die Ansicht, wenn sich ein Zauberer in dieser Kunst übe, werde sich die Traumaufmerksamkeit einstellen, wie er es nannte, das heißt, die Fähigkeit, eine besondere Art Aufmerksamkeit auf die Elemente eines gewöhnlichen Traums zu richten oder sie mit einer besonderen Art von Bewußtheit wahrzunehmen.
Ich hatte seine Empfehlungen genau befolgt, und es war mir gelungen, meinem Bewußtsein zu befehlen, sich voll und ganz auf die Elemente eines Traums zu konzentrieren. Nach Don Juans Vorstellung ging es nicht darum, bewußt einen gewünschten Traum herbeizuführen, sondern die Aufmerksamkeit auf die Elemente zu richten, die der Traum enthielt, der sich einstellte.
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Danach zeigte mir Don Juan energetisch, was die Zauberer im alten Mexiko für den Ursprung des Träumens hielten – die Verschiebung des Montagepunktes. Er erklärte, daß sich der Montagepunkt im Schlaf auf ganz natürliche Weise verschiebe, daß es allerdings etwas schwierig sei, die Verschiebung zu sehen, denn das erfordere eine aggressive Stimmung. Die Zauberer im alten Mexiko hätten für diese Art aggressiver Stimmung eine besondere Vorliebe gehabt. Nach Don Juans Worten hatten die Zauberer alle Prämissen ihrer Zauberei mit Hilfe dieser Stimmung gefunden.
»Es ist eine überaus räuberische Stimmung«, fuhr Don Juan fort. »Es ist nicht schwer, sich in diese Stimmung zu bringen, denn der Mensch ist von Natur ein Raubtier. Aggressiv könntest du jeden in diesem kleinen Dorf oder vielleicht jemanden in großer Entfernung sehen, während er schläft. Jeder eignet sich zu diesem Zweck. Wichtig dabei ist, daß du das Gefühl absoluter Gleichgültigkeit erreichst. Du bist auf der Suche nach etwas, und du bist unterwegs, um es zu bekommen. Du machst dich auf den Weg und suchst jemanden. Wie eine Katze, wie ein Raubtier suchst du jemanden, über den du herfallen kannst.«
Don Juan lachte über meinen Ärger und erklärte mir heiter, die Schwierigkeit bei dieser Technik sei die Stimmung. Ich könne beim Vorgang des Sehens nicht passiv sein, denn der Anblick sei nicht zum Betrachten gedacht, sondern um darauf zu reagieren und zu handeln.
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Die Träumer und Pirscher
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Don Juan hatte mir auch immer wieder gesagt, daß sich die Zauberer in zwei Gruppen teilen, in die Träumer und in die Pirscher. Die Träumer waren sehr geschickt im Verschieben des Montagepunkts. Die Pirscher besaßen die große Fähigkeit, den Montagepunkt an der neuen Stelle festzuhalten. Träumer und Pirscher ergänzten einander. Sie arbeiteten paarweise und beeinflußten sich gegenseitig mit ihrer jeweiligen Veranlagung.
Don Juan hatte mir versichert, daß die Verschiebung und Fixierung des Montagepunkts dank der eisernen Disziplin der Zauberer willentlich vorgenommen werden konnte. Die Zauberer seiner Tradition glaubten, so sagte er, es gebe in der leuchtenden Kugel, die wir sind, mindestens sechshundert Punkte, die uns jeweils eine vollständige Welt öffneten, wenn sie willentlich vom Montagepunkt berührt wurden. Das heißt, wenn der Montagepunkt zu einem dieser Punkte verschoben und dort fixiert wird, nehmen wir eine Welt wahr, die so vollständig ist wie unsere Alltagswelt, von der sie sich allerdings unterscheidet.
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Don Juan hatte weiter erläutert, daß die Kunst der Zauberei darin liegt, den Montagepunkt zu manipulieren und durch den Willen dahin zu bringen, daß er seine Position auf der leuchtenden Kugel verändert. Die Manipulation führt dazu, daß sich der Kontaktpunkt mit dem dunklen Meer des Bewußtseins verändert. Eine Begleiterscheinung davon ist es, daß ein anderes Bündel unzähliger Energiefelder in Form leuchtender Fasern am Montagepunkt zusammenläuft. Das Zusammenlaufen der neuen Energiefelder am Montagepunkt hat wiederum zur Folge, daß ein Bewußtsein anderer Art aktiv wird als das, was notwendig ist, um die Alltagswelt wahrzunehmen. Es wandelt die neuen Energiefelder in sensorische Daten um, die als eine andere Welt wahrgenommen und interpretiert werden, denn die Energiefelder, die sie hervorbringen, unterscheiden sich von den gewohnten.
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Er erklärte, eine genaue Definition der praktischen Zauberei sei die Feststellung, daß Zauberei die Manipulation des Montagepunktes mit dem Ziel ist, den entscheidenden Verbindungspunkt mit dem dunklen Meer des Bewußtseins zu verändern und dadurch die Wahrnehmung anderer Welten zu ermöglichen.
Nach Don Juans Worten kommt die Kunst der Pirscher ins Spiel, sobald der Montagepunkt verschoben worden ist. Die Fixierung des Montagepunkts an seiner neuen Position gibt den Zauberern die Sicherheit, daß sie die neue Welt, die sie betreten, in ihrer Gesamtheit wahrnehmen, genau so, wie wir es mit der Welt der gewöhnlichen Dinge tun. Für die Zauberer von Don Juans Schule ist die Welt nur eine Falte einer vollständigen Welt, die aus mindestens sechshundert Falten besteht.
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Don Juan kehrte zu einem andern Thema zurück, das wir erörterten – meine Wanderungen auf dem dunklen Meer des Bewußtseins. Er sagte, was ich aus meiner inneren Stille heraus getan hatte, gleiche dem, was man beim Träumen tut, während man schläft. Bei der Wanderung auf dem dunklen Meer des Bewußtseins gebe es allerdings keinerlei vom Schlaf verursachte Unterbrechung, und während eines Traums gebe es nicht den Versuch, die Aufmerksamkeit unter Kontrolle zu halten. Die Wanderung auf dem dunklen Meer des Bewußtseins bringe eine unmittelbare Reaktion mit sich. Man habe ein überwältigendes Gefühl des Hier und Jetzt. Don Juan beklagte, daß ein paar schwachsinnige Zauberer den Vorgang des direkten Erreichens des Meeres des Bewußtseins als Wach-Träumen bezeichnet und so den Begriff Träumen noch lächerlicher gemacht hätten.
»Als du glaubtest, du hättest diese Traumphantasie, in die von mir gewählte Stadt zu gehen«, fuhr er fort, »hattest du in Wirklichkeit deinen Montagepunkt direkt an eine bestimmte Stelle auf dem dunklen Meer des Bewußtseins verschoben, der die Wanderung möglich macht. Dann lieferte dir das dunkle Meer des Bewußtseins alles, was nötig war, um diese Wanderung fortzusetzen. Es gibt absolut keine Möglichkeit, diesen Punkt willentlich zu bestimmen. Zauberer sagen, die innere Stille wählt ihn mit unfehlbarer Sicherheit aus. Das ist einfach, nicht wahr?«
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Er erklärte mir die Feinheiten der Wahl. Für Krieger-Wanderer, so sagte er, sei die Wahl nicht wirklich der Vorgang des Wählens, sondern vielmehr der Vorgang, sich den Aufforderungen der Unendlichkeit mit Meisterschaft zu fügen.
»Die Unendlichkeit trifft die Wahl«, sagte er. »Die Kunst des Krieger-Wanderers beruht auf der Fähigkeit, der kleinsten Andeutung zu folgen, sich jedem Befehl der Unendlichkeit zu fügen. Dazu braucht ein Krieger-Wanderer Mut und Können, Stärke und vor allem Nüchternheit. Alle diese Eigenschaften zusammen ergeben Meisterschaft!«
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Energie wie sie im Universum fliesst
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Ich sah Energie, wie sie im Universum fließt, doch ich sah Menschen nicht als leuchtende Kugeln oder Ovale. Die Leute um uns waren in einem Augenblick normale, alltägliche Menschen, und im nächsten Augenblick waren sie seltsame Wesen. Es war, als sei der Energieball, der wir sind, transparent. Er wirkte wie ein Lichtschein um einen insektenartigen Kern. Dieser Kern hatte nicht die Form, wie Primaten sie besitzen. Es fehlte jegliches Skelett. Ich sah also nicht Menschen, als hätte ich einen Röntgenblick, der bis ins Knochenmark vordrang. Der innerste Kern der Menschen setzte sich vielmehr aus geometrischen Formen zusammen, die aus heftigen Schwingungen von Materie zu bestehen schienen. Der Kern war wie Buchstaben des Alphabets – ein großes T schien die wesentliche Stütze der Konstruktion zu sein. Vor dem T hing ein umgedrehtes dickes L; direkt am unteren Ende der Senkrechten des T schloß sich ein griechisches Delta an, das beinahe bis zur Erde reichte. Es schien die ganze Konstruktion zu stützen. Über dem T entdeckte ich etwas, das wie ein Stück Seil von zwei bis drei Zentimeter Durchmesser aussah. Es zog sich durch das obere Ende der leuchtenden Kugel, als hätte ich tatsächlich einen riesigen Tropfen vor mir, der wie ein Schmuckanhänger an einer Kette hing.
Don Juan hatte mir die energetische Verbindung der Fasern der Menschen anhand einer Metapher beschrieben. Er sagte, die Zauberer des alten Mexiko hätten diese Fasern als einen Vorhang aus Perlen bezeichnet, die auf eine Schnur aufgezogen seien.
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Ich hatte das wörtlich genommen und vermutet, daß sich die Schnur durch das Konglomerat von Energiefeldern zieht, das wir von Kopf bis Fuß sind. Die Schnur, die ich jetzt sah, ließ die runde Form der Energiefelder der Menschen mehr wie einen Anhänger aussehen. Ich bemerkte jedoch nicht, daß zwei oder mehr dieser Wesen an einer Schnur hingen. Jedes der Wesen, die ich sah, war ein Wesen aus geometrischen Mustern mit einer Art Schnur am oberen Ende seines kreisförmigen Lichtscheins. Die Schnur erinnerte mich sehr an die segmentartigen, wurmähnlichen Gebilde, die manche Menschen sehen, wenn sie in der Sonne die Augen halb schließen.
Don Juan und ich gingen von einem Ende der Stadt zum anderen, und ich sah viele Wesen mit geometrischen Mustern. Meine Fähigkeit, sie zu sehen, war allerdings in höchstem Maße unzuverlässig. Ich sah sie einen Moment, verlor sie aus dem Blick und hatte wieder normale Menschen vor mir.
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Geduldig erklärte er mir, daß es Zauberei ist, den Fluß der Kontinuität zu unterbrechen, der die Welt für uns verständlich macht. Er sagte, ich sei an diesem Tag auf dem dunklen Meer des Bewußtseins gewandert und hätte die Menschen gesehen, wie sie sind, während sie mit ihren menschlichen Angelegenheiten beschäftigt sind. Danach hätte ich den Energiestrang gesehen, der bestimmte Energielinien miteinander verbindet.
Don Juan wiederholte immer wieder, daß ich etwas Besonderes und Unerklärliches gesehen hätte. Ich hatte verstanden, was die Leute sagten, ohne ihre Sprache zu kennen, und ich hatte den Energiestrang gesehen, der Menschen mit bestimmten anderen Menschen verband. Und ich hatte diese Aspekte durch den Vorgang des Wollens ausgewählt. Er betonte, das Wollen sei nichts Bewußtes oder Willentliches. Das Wollen hatte sich auf einer tieferen Ebene vollzogen und war von der Notwendigkeit bestimmt worden. Ich mußte mir einiger der Möglichkeiten bewußt werden, auf dem dunklen Meer des Bewußtseins zu wandern, und meine innere Stille hatte das Wollen – eine immerwährende Kraft im Universum – geleitet, diese Notwendigkeit zu erfüllen.
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Anorganische Wesen
»Du weißt bereits«, begann er, »daß es im Universum eine immerwährende Kraft gibt. Die Zauberer des alten Mexiko nannten sie das dunkle Meer des Bewußtseins. Auf dem Höhepunkt ihrer Wahrnehmungskraft haben sie etwas gesehen, das sie in ihren Hosen zittern ließ, wenn sie welche trugen. Sie haben gesehen, daß das dunkle Meer des Bewußtseins nicht nur für das Bewußtsein der Organismen, sondern auch für das Bewußtsein von Wesen verantwortlich ist, die keinen Organismus besitzen.«
»Was sind das, Don Juan, Wesen ohne Organismus, die ein Bewußtsein haben?« fragte ich erstaunt, denn davon hatte er noch nie zuvor gesprochen.
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»Die alten Schamanen haben entdeckt, daß das gesamte Universum aus Zwillingskräften besteht«, sagte er, »aus Kräften, die gleichzeitig einander entgegengesetzt sind und sich ergänzen. Unsere Welt ist unvermeidlich eine Zwillingswelt. Die ihr entgegengesetzte und komplementäre Welt ist von Wesen bevölkert, die Bewußtsein, aber keinen Körper besitzen. Aus diesem Grund nannten die alten Zauberer sie anorganische Wesen.«»Und wo befindet sich diese Welt, Don Juan?« fragte ich, während ich unbewußt auf einem Stück Aprikose kaute.
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»Hier, wo wir beide, du und ich, sitzen«, erwiderte er sachlich, lachte aber laut über meine Nervosität. »Ich habe dir gesagt, es ist unsere Zwillingswelt. Das bedeutet, sie steht in einer sehr engen Verbindung zu uns. Die altmexikanischen Zauberer dachten nicht wie du in den Begriffen von Raum und Zeit. Sie dachten nur in Begriffen von Bewußtsein. Es gibt zwei Arten von Bewußtsein, die gleichzeitig existieren, ohne jedoch jemals aufeinander zu treffen, denn jede Art ist völlig verschieden von der anderen. Die alten Schamanen standen vor diesem Problem der Koexistenz, ohne sich mit Zeit und Raum abzugeben. Sie sagten sich, die Bewußtseinsstufe von organischen Wesen und die Bewußtseinsstufe von anorganischen Wesen seien so unterschiedlich, daß beide mit einem Minimum an Konflikten nebeneinander existieren könnten.
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»Können wir diese anorganischen Wesen wahrnehmen, Don Juan?« fragte ich.
»Ganz sicher können wir das«, erwiderte er. »Zauberer tun das willentlich. Gewöhnliche Menschen tun es, doch sie sind sich darüber nicht im klaren, denn ihnen ist die Existenz einer Zwillingswelt nicht bewußt. Wenn sie an eine Zwillingswelt denken, überlassen sie sich allen möglichen mentalen Masturbationen, doch sie sind nie auf den Gedanken gekommen, daß ihre Phantasien einem unbewußten Wissen entspringen, das wir alle besitzen. Wir sind nicht allein!«
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Ich war von Don Juans Worten gefesselt. Plötzlich hatte ich einen Heißhunger. In meinem Magen war eine spürbare Leere. Ich konnte nichts anderes tun, als so aufmerksam wie möglich zuhören und dabei essen.
»Die Schwierigkeit, wenn du in Begriffen von Zeit und Raum an die Dinge herangehst«, fuhr er fort, »liegt darin, daß dir nur bewußt wird, ob etwas in dem Raum und der Zeit auftritt, die dir zur Verfügung stehen und die sehr begrenzt sind. Zauberern dagegen steht ein weites Feld zur Verfügung, wo sie erkennen können,
ob etwas von außen gelandet ist. Viele Wesenheiten aus dem gesamten Universum, die ein Bewußtsein, aber keinen Organismus besitzen, landen auf dem Bewußtseinsfeld unserer Welt oder dem Bewußtseinsfeld der Zwillingswelt, ohne daß ein durchschnittlicher Mensch sie jemals bemerkt. Die Wesenheiten, die auf unserem Bewußtseinsfeld landen oder auf dem unserer Zwillingswelt, gehören anderen Welten an, die neben unserer Welt und ihrem Zwilling existieren. Das gesamte Universum ist randvoll von Welten mit organischem und anorganischem Bewußtsein.«
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Don Juan fuhr fort und sagte, diese Zauberer hätten gewußt, wenn anorganische Bewußtseine von anderen Welten als unserer Zwillingswelt auf ihrem Bewußtseinsfeld gelandet seien. Wie jeder Mensch auf dieser Welt es tun würde, hätten die Schamanen endlose Klassifikationen unterschiedlicher Arten dieser Energie erstellt, die Bewußtsein besitzt. Sie faßten sie unter dem allgemeinen Begriff anorganische Wesen zusammen.«
»Sind diese anorganischen Wesen lebendig, so wie wir lebendig sind?« fragte ich.
»Wenn du glaubst, daß Leben heißt, Bewußtsein zu haben, dann sind sie lebendig«, erwiderte er. »Ich nehme an, es wäre richtig zu sagen, wenn sich Leben an der Intensität, der Schärfe und der Dauer dieses Bewußtseins messen läßt, dann muß man feststellen, daß sie lebendiger sind als du und ich.«
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»Sterben diese anorganischen Wesen, Don Juan?« fragte ich.
Don Juan lachte leise, bevor er erwiderte: »Wenn du den Tod als das Ende des Bewußtseins bezeichnest, dann sterben sie. Ihr Bewußtsein endet. Ihr Tod gleicht sehr dem Tod eines Menschen, aber wiederum auch nicht, denn zum Tod eines Menschen gibt es eine verborgene Alternative. Sie ist so etwas wie eine Klausel in einem juristischen Dokument, eine kleingedruckte Klausel, deren Buchstaben man kaum sieht. Man braucht eine Lupe, um sie zu lesen, und doch ist sie die wichtigste Klausel des ganzen Dokuments.
»Was ist die verborgene Alternative, Don Juan?«
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»Die verborgene Alternative zum Tod steht nur den Zauberern offen. Sie haben meines Wissens als einzige das Kleingedruckte gelesen. Für sie ist es eine relevante und funktionale Alternative. Für den durchschnittlichen Menschen bedeutet der Tod das Ende des Bewußtseins, das Ende des Organismus. Für anorganische Wesen bedeutet der Tod das gleiche: das Ende des Bewußtseins. In beiden Fällen hat der Tod die Wirkung, vom dunklen Meer des Bewußtseins aufgesaugt zu werden. Das individuelle Bewußtsein, das mit den Lebenserfahrungen beladen ist, durchbricht seine Grenzen, und das Bewußtsein als Energie ergießt sich in das dunkle Meer des Bewußtseins.«
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»Aber was ist die verborgene Alternative zum Tod, die nur Zauberer haben, Don Juan?« fragte ich.
»Für einen Zauberer ist der Tod ein integrierender Faktor. Anstatt den Organismus aufzulösen, wie es normalerweise der Fall ist, eint ihn der Tod.«
»Wie kann der Tod etwas einen?« widersprach ich.
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»Für einen Zauberer«, sagte Don Juan, »beendet der Tod die Herrschaft einzelner Stimmungen im Körper. Nach Überzeugung der alten Zauberer bestimmt die Herrschaft der verschiedenen Körperteile die Stimmungen und das Handeln des gesamten Körpers. Teile, deren Funktionen gestört sind, zerren den Rest des Körpers ins Chaos – zum Beispiel, wenn dir vom schlechten Essen übel wird. In diesem Fall beeinflußt die Stimmung deines Magens alles andere. Der Tod macht Schluß mit der Herrschaft dieser einzelnen Körperteile. Er integriert das Bewußtsein zu einer einzigen Einheit.«
​
»Du meinst, nachdem Zauberer gestorben sind, haben sie immer noch ein Bewußtsein?«
»Für Zauberer ist der Tod ein Vorgang der Einigung, an dem jeder Teil ihrer Energie beteiligt ist. Wenn du an den Tod denkst, dann siehst du eine Leiche, einen Körper, dessen Zerfall eingesetzt hat. Bei Zauberern gibt es keine Leiche, wenn der Vorgang der Einigung stattfindet. Ihr ganzer Körper ist in Energie verwandelt worden, in Energie mit einem Bewußtsein, das nicht zersplittert ist. Die Grenzen, die der Organismus aufgerichtet hat und die der Tod niederreißt, funktionieren im Fall der Zauberer immer noch. Allerdings sind sie mit bloßen Augen nicht mehr zu sehen.
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Ich weiß, du würdest mich schrecklich gern fragen«, fuhr er lächelnd fort, »ob das, was ich beschreibe, die Seele ist, die in den Himmel oder in die Hölle geht. Nein, es ist nicht die Seele. Wenn Zauberer die verborgene Alternative zum Tod wählen, verwandeln sie sich in anorganische Wesen, sehr spezialisierte, sehr schnelle anorganische Wesen, die zu unglaublichen Manövern der Wahrnehmung fähig sind. Die Zauberer beginnen damit, was die Schamanen im alten Mexiko ihre letzte Wanderung nannten. Die Unendlichkeit wird ihr Wirkungsbereich.«
»Meinst du damit, sie werden unsterblich, Don Juan?«
»Meine Nüchternheit als Zauberer sagt mir«, antwortete er, »daß ihr Bewußtsein enden wird, so wie das Bewußtsein anorganischer Wesen endet, aber gesehen habe ich das nicht. Ich weiß es nicht aus eigener Erfahrung. Die alten Zauberer nahmen an, daß das Bewußtsein dieser Art anorganischer Wesen so lange dauert, wie die Erde lebt. Die Erde ist ihr Nährboden und ihre Matrix. Solange es die Erde gibt, besteht ihr Bewußtsein. Für mich ist das eine sehr vernünftige Aussage.«
Ich konnte gegen den Kontext und die Logik von Don Juans Erklärung nichts einwenden. Das, was er sagte, war großartig. Ich konnte absolut nichts hinzufügen. Ich blieb mit einem Gefühl des Geheimnisvollen und unausgesprochener Erwartungen zurück, die sich erfüllen würden.
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»Ist es möglich, Don Juan, daß es tatsächlich Geister und Erscheinungen gibt?«
»Was immer für dich ein Geist oder eine Erscheinung sein mag«, antwortete er, »reduziert sich, wenn ein Zauberer es genau betrachtet, auf einen Punkt – es ist möglich, daß eine der geisterhaften Erscheinungen ein Konglomerat von Energiefeldern mit einem Bewußtsein ist und daß wir es in etwas Bekanntes verwandeln. In diesem Fall besitzen die Erscheinungen Energie. Die Zauberer bezeichnen sie als Energie erzeugende Konfigurationen. Wenn keine Energie von ihnen ausgeht, sind sie phantasmagorische Produkte – üblicherweise eines sehr starken Menschen, wobei sich Stärke auf das Bewußtsein bezieht.
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Andere Arten von Anorganischen Wesen
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Wie Don Juan erklärte, hatten die Zauberer im alten Mexiko noch eine andere Kategorie anorganischer Wesen entdeckt – die Kundschafter oder die Forscher. Damit bezeichneten sie anorganische Wesen, die aus den Tiefen des Universums kamen und ein Bewußtsein besaßen, das unendlich viel schärfer und schneller war als das der Menschen. Don Juan versicherte, die alten Zauberer hätten ihre Klassifikationsschemata über Generationen hinweg verfeinert. Sie seien zu dem Schluß gekommen, daß bestimmte Arten anorganischer Wesen der Kategorie Kundschafter oder Forscher auf Grund ihrer Lebhaftigkeit den Menschen gleichen. Sie konnten Verbindungen aufnehmen und eine symbiotische Beziehung zu Menschen eingehen. Die alten Zauberer nannten diese Art anorganischer Wesen die Verbündeten.
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Don Juan erklärte, die Schamanen hätten in Hinblick auf diese Art anorganischer Wesen einen entscheidenden Fehler begangen, indem sie dieser unpersönlichen Energie menschliche Eigenschaften zuschrieben und glaubten, sie sich nutzbar machen zu können. Sie betrachteten die Energieblöcke als ihre Helfer und verließen sich auf sie, ohne zu begreifen, daß die Helfer als reine, unvermischte Energie nicht die Macht hatten, sie bei irgendwelchen Bemühungen zu unterstützen.
»Ich habe dir alles über anorganische Wesen gesagt, was es darüber zu wissen gibt«, sagte Don Juan unvermittelt.
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»Direkte Erfahrung ist die einzige Möglichkeit, es nachzuprüfen.«
Ich fragte ihn nicht, was er von mir erwartete. Mich hatte eine große Angst erfaßt. Sie schüttelte meinen Körper mit nervösen Spasmen, die wie ein Vulkan an meinem Solarplexus ausbrachen und bis hinunter in die Zehenspitzen und hinauf in den Oberkörper reichten.
»Wir werden heute ein paar anorganische Wesen suchen«, verkündete er.
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»Du mußt begreifen«, sagte er, »unsere Möglichkeiten werden durch unsere Wahrnehmung, die im Kern ein Interpretationssystem ist, beschränkt. Unser Interpretationssystem gibt uns die Parameter unserer Möglichkeiten vor, und da wir dieses Interpretationssystem unser ganzes Leben lang benutzt haben, können wir unmöglich gegen sein Diktum handeln.
Die Energie dieser anorganischen Wesen versetzt uns Stöße«, fuhr Don Juan fort, »und wir interpretieren einen Stoß je nach unserer Stimmung. Für einen Zauberer ist es das Vernünftigste, diese Wesenheiten auf die Ebene des Abstrakten zu verweisen. Je weniger Interpretationen Zauberer machen, desto besser ist es für sie.
Wenn sich dir von jetzt an ein seltsamer Anblick, eine Erscheinung präsentiert, behaupte deine Stellung und blicke sie mit einer durch nichts zu erschütternden Haltung an. Wenn es sich um ein anorganisches Wesen handelt, wird deine Interpretation wie totes Laub von dir abfallen. Geschieht nichts, ist es nur eine infantile Ausgeburt deines Spatzenhirns, das sowieso nicht dir gehört.«
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Liebesbeziehung
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Das einzige, was mir zu Hilfe kam und mir eine wenn auch eher schwache Verbindung zur akademischen Welt gab, war ein Grundsatz, über den Don Juan einmal mit mir gesprochen hatte: ›Krieger-Wanderer sollten zum Wissen, in welcher Form auch immer es ihnen dargeboten wird, eine Liebesbeziehung haben.‹
Er hatte das Konzept des Krieger-Wanderers definiert und gesagt, da ein Zauberer ein Krieger ist, wandert er über das dunkle Meer des Bewußtseins. Er fügte hinzu, die Menschen seien Reisende im dunklen Meer des Bewußtseins, und die Erde sei nur eine Station auf ihrer Reise. Doch aus Gründen, die außerhalb ihrer selbst lägen, die er mir jedoch damals nicht nannte, hätten die Menschen ihre Reise unterbrochen. Die Menschen seien in einer Art Strudel gefangen, in einem kreisenden Strom, der ihnen das Gefühl gibt, daß sie sich bewegen, während sie in Wirklichkeit nicht von der Stelle kommen. Er betonte, die Zauberer seien die einzigen Gegner der Kraft, welche Kraft das auch immer sei, die die Menschen in der Gefangenschaft halte. Durch ihre Disziplin befreiten sich Zauberer aus dem Griff dieser Kraft und setzten ihre Reise des Bewußtseins fort.
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Zitate:
1.
»Krieger-Wanderer beschweren sich nicht«, fuhr Don Juan fort. »Sie betrachten alles, was ihnen die Unendlichkeit vorsetzt, als Herausforderung. Eine Herausforderung ist eine Herausforderung. Sie ist nichts Persönliches. Man kann sie nicht als Fluch oder Segen betrachten. Entweder siegt ein Krieger-Wanderer, oder die Herausforderung vernichtet ihn. Es ist jedoch aufregender zu gewinnen. Also gewinne!«
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2.
»Es ist nicht der Fehler der Leute um dich herum, es ist dein Fehler«, sagte er. »Sie können nicht anders. Der Fehler liegt bei dir, denn du kannst anders, aber du bestehst darauf, auf einer tiefen Ebene der Stille über sie zu urteilen. Jeder Dummkopf kann andere verurteilen. Wenn du sie verurteilst, erlebst du sie nur von ihrer schlechtesten Seite. Wir Menschen sind alle Gefangene, und es ist das Gefängnis, das uns dazu bringt, uns so erbärmlich zu verhalten. Die Herausforderung besteht für dich darin, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind! Laß die Leute in Ruhe.«
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Leuchtende Kugeln
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Von einem bestimmten Augenblick an wußte ich nicht mehr, ob ich saß oder stand. Mich umgab die undurchdringlichste Dunkelheit, die man sich vorstellen kann, und dann sah ich Energie, wie sie im Universum fließt.
Ich sah eine Folge leuchtender Kugeln, die auf mich zukamen oder sich von mir entfernten. Ich sah jeweils nur eine von ihnen, so wie Don Juan es mir immer gesagt hatte. Wegen ihrer unterschiedlichen Größe wußte ich, daß es sich um unterschiedliche Personen handelte. Ich betrachtete mir die Einzelheiten ihres Aufbaus genauer. Ihr Leuchten und ihre runde Form kam von Fasern, die zusammengeklebt zu sein schienen. Es waren dicke oder dünne Fasern. Jede der leuchtenden Gestalten hatte eine dicke, zersauste Hülle. Sie sahen aus wie eigenartige, leuchtende pelzige Tiere oder riesige runde Insekten, die mit leuchtenden Haaren bedeckt waren.
Am meisten erschreckte mich die Erkenntnis, daß ich diese pelzigen Insekten mein Leben lang gesehen hatte. In diesem Moment erschien mir jede Gelegenheit, bei der Don Juan mich soweit gebracht hatte, sie bewußt zu sehen, wie ein Umweg, den ich mit ihm genommen hatte.
Ich erinnerte mich an jedes einzelne Mal, wo er mir geholfen hatte, Menschen als leuchtende Kugeln zu sehen. Das alles war losgelöst von dem Volumen an Sehen, das mir jetzt zugänglich war. Da wußte ich ohne jeden Zweifel, daß ich mein Leben lang selbst, ohne die Hilfe eines anderen, Energie wahrgenommen hatte, wie sie im Universum fließt.
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Die Erkenntnis, daß ich mein Leben lang Energie direkt wahrgenommen hatte, war das Schockierendste, was ich mir vorstellen konnte. Wie um alles in der Welt war es möglich gewesen, daß ich das nicht wußte? Was hatte mich daran gehindert, Zugang zu dieser Facette meines Wesens zu finden? Don Juan hatte gesagt, jeder Mensch hat das Potential, Energie direkt zu sehen. Er hatte allerdings nicht gesagt, daß jeder Mensch Energie tatsächlich direkt sieht, es aber nicht weiß.
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Ich hatte nicht gewagt, jemandem zu sagen, daß ich in meinem Bett aufgewacht war, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Deshalb schien meine Eile, Don Juan zu sehen, mehr als gerechtfertigt. Sobald ich konnte, flog ich nach Mexico City, nahm einen Leihwagen und fuhr zu dem Ort, wo er lebte.
»Das hast du alles schon früher getan!« sagte Don Juan lachend, als ich ihm das Erlebnis berichtete, das mein Verstand nicht fassen konnte. »Es sind nur zwei Dinge neu. Zum einen hast du Energie ganz allein wahrgenommen. Du hast die Welt angehalten und dann erkannt, daß du schon immer Energie gesehen hast, so wie sie im Universum fließt, wie jeder Mensch Energie sieht, ohne daß es ihm bewußt ist. Das andere Neue ist, daß du ganz allein aus deiner inneren Stille heraus gewandert bist.
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Du weißt, ohne daß ich es dir sagen muß, daß alles möglich ist, wenn man von der inneren Stille ausgeht. Diesmal haben deine Angst und Verletzlichkeit es dir ermöglicht, in deinem Bett zu landen, das eigentlich nicht so weit vom Campus der UCLA entfernt ist. Wenn du dich nicht deinem Staunen überlassen würdest, wäre dir klar, daß das, was du getan hast, für einen Krieger-Wanderer nichts Besonderes ist.
Doch der Punkt von allergrößter Wichtigkeit ist nicht das Wissen, daß du schon immer Energie direkt wahrgenommen hast, oder deine Wanderung aus der inneren Stille heraus, sondern etwas anderes, das zwei Aspekte hat. Erstens hast du etwas erlebt, was die Zauberer im alten Mexiko den klaren Blick nannten oder das Verlieren der menschlichen Form. Es ist der Augenblick, in dem die menschliche Kleinlichkeit verschwindet, als sei sie eine Nebelwolke gewesen, die über uns hing, ein Nebel, der sich langsam aufhellt und auflöst. Doch du darfst keinesfalls glauben, das sei eine vollendete Tatsache.
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Die Welt der Zauberer ist nicht so beständig wie die Alltagswelt, wo man dir sagt, wenn du ein Ziel einmal erreicht hast, bist du für alle Zeiten ein Gewinner. In der Welt der Zauberer bedeutet das Erreichen eines bestimmten Ziels, daß du einfach die wirksamsten Werkzeuge erworben hast, um deinen Kampf fortzusetzen, der übrigens niemals enden wird.
Der andere Aspekt dieser Sache ist, daß du auf die schwierigste Frage gestoßen bist, die die Menschen quält wie keine andere. Du hast es selbst zum Ausdruck gebracht, als du dich fragtest: ›Wie um alles in der Welt ist es möglich, daß ich nicht wußte, daß ich mein Leben lang Energie unmittelbar wahrgenommen habe? Was hat mich daran gehindert, Zugang zu dieser Facette meines Wesens zu finden?
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Der Energiekörper
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Er hatte mir den Energiekörper unzählige Male als ein Konglomerat von Energiefeldern beschrieben, das Spiegelbild des Konglomerats von Energiefeldern, die den physischen Körper bilden, wenn er als Energie gesehen wird, wie sie im Universum fließt. Er hatte gesagt, der Energiekörper sei kleiner, kompakter und wirke massiger als die leuchtende Kugel des physischen Körpers.
Don Juan hatte erklärt, daß der Körper und der Energiekörper zwei Konglomerate von Energiefeldern seien, die eine seltsame, verbindende Kraft zusammenfüge. Er hob immer wieder hervor, die Kraft, der zu verdanken ist, daß sich die Gruppen von Energiefeldern aneinander binden, sei nach den Erkenntnissen der altmexikanischen Zauberer die geheimnisvollste Kraft des Universums. Seiner Vermutung nach handelt es sich dabei um die reine Essenz des gesamten Kosmos, die Summe all dessen, was existiert.
Er behauptete, der physische Körper und der Energiekörper seien im Bereich des Menschen die einzigen Energiekonfigurationen, die im Miteinander ein Gegengewicht bilden. Deshalb erkannte er keinen anderen Dualismus als den Dualismus dieser beiden an. Der Dualismus von Körper und Bewußtsein, von Fleisch und Geist war für ihn nichts als eine vom Verstand hergestellte und von ihm ausgehende Verbindung ohne jede energetische Grundlage.
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Don Juan sagte, durch Disziplin sei es jedem Menschen möglich, den Energiekörper näher an den physischen Körper heranzubringen. Normalerweise sei der Abstand zwischen beiden sehr groß. Befinde sich der Energiekörper erst einmal in einem gewissen Abstand, der individuell verschieden groß sei, könne jeder ihn durch Disziplin zu einer genauen Kopie des physischen Körpers formen, das heißt, zu einem dreidimensionalen, körperlichen Wesen. Daraus sei bei den Zauberern die Vorstellung vom Anderen oder dem Doppelgänger entstanden. Überdies könne jeder Mensch mit Hilfe von Disziplin seinen dreidimensionalen, festen physischen Körper zu einer perfekten Kopie seines Energiekörpers formen, das heißt, zu einer unkörperlichen Ballung von Energie, die wie alle Energie für das menschliche Auge nicht sichtbar ist.
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Als Don Juan mir das erklärte, hatte ich darauf mit der Frage reagiert, ob er mir etwas Mythisches beschreibe. Er erwiderte, an Zauberern sei nichts Mythisches. Zauberer seien praktische Menschen, und was sie beschrieben, sei immer sehr nüchtern und vernünftig. Nach Don Juans Ansicht beruht die Schwierigkeit im Verstehen darauf, daß die Zauberer von einem anderen kognitiven System ausgehen.
Als wir an jenem Tag hinter seinem Haus in Zentralmexiko saßen, sagte Don Juan, der Energiekörper sei von grundlegender Bedeutung bei allem, was sich in meinem Leben ereigne. Er sah als eine energetische Tatsache, daß mein Energiekörper, anstatt sich von mir zu entfernen, wie es normalerweise der Fall ist, sich mir mit großer Geschwindigkeit näherte.
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»Was bedeutet das, er nähert sich mir, Don Juan?« fragte ich.
»Es bedeutet, daß dich etwas umhauen wird«, erwiderte er lächelnd. »Ein ungeheures Maß an Kontrolle wird in dein Leben kommen, aber nicht deine eigene. Es ist die Kontrolle des Energiekörpers.«
»Soll das heißen, Don Juan, eine Kraft von außen wird mich kontrollieren?« fragte ich.
»Im Augenblick kontrollieren dich eine ganze Menge Kräfte von außen«, sagte Don Juan. »Die Kontrolle, von der ich spreche, ist etwas, das jenseits des Bereichs von Sprache liegt. Es ist deine Kontrolle, aber gleichzeitig ist sie es auch nicht. Man kann sie nicht einordnen, aber erleben kann man sie ganz sicher. Und vor allem kann man sie manipulieren. Denk daran, du kannst sie voll und ganz zu deinem Nutzen manipulieren, der wiederum nicht dein Nutzen ist, sondern der Nutzen des Energiekörpers. Doch der Energiekörper bist du, also könnten wir ewig so weitermachen, wie ein Hund, der sich in den Schwanz beißt, um das, was ich meine, zu beschreiben. Die Sprache ist inadäquat. Alle diese Erlebnisse ereignen sich jenseits der Sprache.«
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Schwarze Schatten
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Don Juan sagte, wenn ich das Dunkel des Laubs sehr genau beobachte, ohne meinen Blick darauf zu konzentrieren, sondern es eher aus den Augenwinkeln betrachte, würde ich sehen, wie ein flüchtiger Schatten durch mein Gesichtsfeld zog.
»Es ist die richtige Tageszeit, um das zu tun, wozu ich dich auffordere«, sagte er. »Es dauert eine Weile, bis du die notwendige Aufmerksamkeit in dir aufbringst. Gib nicht auf, bevor du den flüchtigen schwarzen Schatten entdeckst.«
Ich sah seltsame flüchtige schwarze Schatten auf dem Laub der Bäume. Entweder war es ein Schatten, der sich hin und her bewegte, oder mehrere Schatten, die sich von links nach rechts oder von rechts nach links oder gerade nach oben bewegten. Sie wirkten auf mich wie dicke schwarze Fische, wie riesengroße Fische. Es war, als flögen riesige Schwertfische durch die Luft. Der Anblick zog mich völlig in seinen Bann. Schließlich machte er mir angst. Es wurde zu dunkel, um das Laub zu sehen, doch ich sah immer noch die fliegenden schwarzen Schatten.
»Was ist los, Don Juan?« fragte ich. »Ich sehe überall schwebende schwarze Schatten.«
»Ah, das ist das gesamte Universum«, antwortete er, »unermeßlich, nicht linear, jenseits der Sprachebenen. Die Zauberer im alten Mexiko haben diese flüchtigen Schatten als erste gesehen und sind ihnen gefolgt. Sie haben sie so gesehen wie du, und sie haben sie als Energie gesehen, die im Universum fließt. Und sie haben etwas entdeckt, das alle Erfahrung überschreitet.«
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»Sie entdeckten, daß wir einen lebenslangen Begleiter haben«, sagte er mit großer Klarheit und Deutlichkeit.
»Es ist ein räuberisches Wesen, das aus den Tiefen des Kosmos kam und die Herrschaft über unser Leben an sich gerissen hat. Die Menschen sind seine Gefangenen. Dieser Räuber ist unser Herr und Meister. Er hat uns fügsam und hilflos gemacht. Wenn wir protestieren wollen, unterdrückt er unseren Protest. Wenn wir unabhängig handeln wollen, verlangt er, daß wir darauf verzichten.«
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Es war sehr dunkel um uns herum, und das schien mich in meinen Ausdrucksmöglichkeiten zu behindern. Im Licht des Tages hätte ich mich halb totgelacht, im Dunkeln fühlte ich mich jedoch gehemmt.
»Um uns herum ist pechschwarze Nacht«, sagte Don Juan. »Aber wenn du deine Umgebung aus den Augenwinkeln heraus betrachtest, wirst du trotzdem flüchtige Schatten sehen, die überall um dich sind.«
Er hatte recht. Ich sah sie immer noch. Von ihren Bewegungen wurde mir schwindlig. Don Juan schaltete das Licht ein, und das schien den Spuk zu vertreiben.
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»Du bist allein und aus eigener Anstrengung auf das gestoßen, was die Schamanen im alten Mexiko das Thema aller Themen nannten«, sagte Don Juan. »Ich habe die ganze Zeit sozusagen bei dir auf den Busch geklopft und wiederholt Anspielungen darauf gemacht, daß uns etwas gefangenhält. Wir sind in der Tat Gefangene! Für die altmexikanischen Zauberer war das eine energetische Tatsache.«
»Wieso hat das räuberische Wesen die Herrschaft so übernommen, wie du es beschrieben hast, Don Juan?« fragte ich. »Dafür muß es eine logische Erklärung geben.«»Es gibt eine Erklärung«, erwiderte Don Juan, »und es ist die einfachste Erklärung der Welt. Sie haben die Herrschaft übernommen, weil wir Nahrung für sie sind. Und sie nehmen uns erbarmungslos aus, weil wir ihr Überleben sichern. So wie wir Hühner in Hühnerställen halten, in ›Gallineros‹, so halten uns die Räuber in Menschenställen, in ›Humaneros‹. Auf diese Weise haben sie ihre Nahrung ständig zur Verfügung.«
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Ich spürte, daß mein Kopf sich heftig von einer Seite zur anderen bewegte. Ich konnte meinen Unmut und meinen Ärger nicht zum Ausdruck bringen, doch mein Körper bewegte sich, um beides deutlich zu machen. Ich schüttelte mich ohne jedes Zutun von Kopf bis Fuß.
»Nein, nein, nein, nein!« hörte ich mich sagen. »Das ist absurd! Was du sagst, ist ungeheuerlich. Es kann einfach nicht wahr sein, weder für Zauberer noch für normale Menschen noch für irgend jemanden.«
»Warum nicht?« fragte Don Juan ruhig. »Warum nicht? Weil es dich wütend macht?«
»Jawohl, es macht mich wütend«, erwiderte ich. »Diese Behauptungen sind monströs!«
»Nun ja«, sagte er, »du hast noch nicht alle Behauptungen gehört. Warte ein bißchen länger, und du wirst sehen, was du dann fühlst. Ich werde dich einem Blitzangriff aussetzen. Das heißt, ich werde deinen Verstand bombardieren, und du wirst nicht aufstehen und gehen können, weil du gefangen bist. Nicht, weil ich dich gefangenhalte, sondern weil etwas in dir dich am Gehen hindern wird, während ein anderer Teil von dir tatsächlich in Raserei gerät. Also mach dich darauf gefaßt!«
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Schattenräuber
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»Ich wende mich an deinen analytischen Verstand«, sagte Don Juan. »Denk einen Augenblick nach und sag mir, wie du den Widerspruch zwischen der Intelligenz des Menschen als Techniker und der Dummheit des Systems seiner Überzeugungen erklärst oder der Dummheit seines widersprüchlichen Verhaltens. Die Zauberer glauben, daß die Räuber uns das System unserer Überzeugungen, unsere Vorstellung von Gut und Böse, unsere gesellschaftlichen Sitten gegeben haben. Sie bringen unsere Hoffnungen und Erwartungen hervor und unsere Träume von Erfolg oder Versagen. Von ihnen stammen Verlangen, Gier und Feigheit. Die Raubwesen sind es, die uns zufrieden und egoistisch und zu Gewohnheitstieren machen.«
»Aber wie können sie das tun, Don Juan?« fragte ich, irgendwie noch mehr verärgert über das, was er sagte. »Flüstern sie uns das alles ins Ohr, während wir schlafen?«
»Nein, so geschieht das nicht. Das ist idiotisch!« sagte Don Juan lächelnd. »Sie sind unermeßlich viel effizienter und systematischer. Um uns gehorsam, demütig und schwach zu halten, haben die räuberischen Wesen zu einem ungeheuerlichen Manöver gegriffen – ungeheuerlich natürlich vom Standpunkt eines Kampfstrategen. Und es ist ein schreckliches Manöver vom Standpunkt derer, die darunter leiden. Sie haben uns ihr Bewußtsein gegeben! Verstehst du? Die Räuber geben uns ihr Bewußtsein, das unser Bewußtsein wird. Ihr Bewußtsein ist verschlungen, widersprüchlich, verdrießlich und von der Angst erfüllt, jederzeit entdeckt zu werden.
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Ich weiß, du hast zwar nie Hunger gelitten«, fuhr er fort, »aber trotzdem hast du Angst um deine Nahrung. Und das ist nichts anderes als die Angst des Räubers. Er fürchtet, seine Machenschaften könnten jeden Moment aufgedeckt und ihm dadurch die Nahrung entzogen werden. Durch das Bewußtsein, das schließlich ihr Bewußtsein ist, lassen die Raubwesen idn das Leben der Menschen einfließen, was immer vorteilhaft für sie selbst ist. Auf diese Weise erreichen sie ein gewisses Maß an Sicherheit, die als Schutzwall vor ihren Ängsten steht.«
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»Es ist nicht so, Don Juan, daß ich das nicht alles für bare Münze nehmen kann«, sagte ich. »Das könnte ich, aber es hat etwas so Ekelhaftes an sich, daß es mich abstößt. Es zwingt mich zum Widerspruch. Wenn es wahr ist, daß sie uns fressen, wie tun sie es?«
Don Juan lächelte. Er freute sich königlich. Er erklärte, daß die Zauberer Menschenkinder als eigenartige, leuchtende Energiebälle sehen, die völlig von einer glänzenden Hülle bedeckt sind, so etwas wie einem Plastiküberzug, der eng an ihrem Energiekokon anliegt. Die Räuber verschlingen diese leuchtende Hülle des Bewußtseins. Zum Zeitpunkt, an dem der Mensch erwachsen wird, ist von der leuchtenden Hülle des Bewußtseins nur noch ein schmaler Rand übrig, der vom Boden bis über die Zehen reicht. Dieser Rand ermöglicht es den Menschen gerade noch, am Leben zu bleiben.«
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Wie im Traum hörte ich, wie Don Juan erklärte, daß sich seines Wissens beim Menschen als einziger Spezies die leuchtende Hülle des Bewußtseins außerhalb des leuchtenden Kokons befindet. Deshalb werde der Mensch zur leichten Beute für ein Bewußtsein anderer Ordnung, wie dem schwerfälligen Bewußtsein der Räuber.
Darauf folgte eine Aussage, die vernichtender war als alles, was er jemals zuvor geäußert hatte. Er sagte, dieser schmale Rand des Bewußtseins ist das Epizentrum der Selbstreflexion, in dem der Mensch unabänderlich gefangen ist. Dadurch, daß die räuberischen Wesen mit der Selbstreflexion ihr Spiel treiben, bewirken sie ein momentanes Aufflackern des Bewußtseins, das sie dann rücksichtslos und räuberisch verschlingen. Sie legen uns alberne Probleme vor, die das Bewußtsein zum Aufflackern zwingen. So halten sie uns am Leben, damit die energetischen Flammen unserer Pseudoprobleme sie ernähren.
Etwas an dem, was Don Juan sagte, mußte so niederschmetternd gewesen sein, daß mir an diesem Punkt tatsächlich übel wurde.
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Nach einer Pause, die gerade lang genug war, um mich wieder zu erholen, fragte ich Don Juan: »Wie kommt es, daß die Zauberer im alten Mexiko und die heutigen Zauberer die Raubwesen sehen, aber nichts dagegen unternehmen?«
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»Es gibt nichts, was du und ich dagegen tun können«, erwiderte Don Juan ernst und traurig. »Wir können uns nur so weit selbst disziplinieren, daß sie uns nicht anrühren. Wie könntest du von deinen Mitmenschen verlangen, sich einer so rigorosen Disziplin zu unterwerfen? Sie würden lachen und dich verspotten, und die aggressiveren unter ihnen würden dich halb totprügeln. Aber weniger deshalb, weil sie dir nicht glauben würden, denn jeder Mensch trägt tief im Innern ein ererbtes Bauch-Wissen von der Existenz der Räuber in sich.«
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»Die Zauberer im alten Mexiko«, sagte er, »haben den Räuber gesehen. Sie nannten ihn den Flieger, weil er durch die Luft springt. Es ist kein schöner Anblick. Er ist ein großer undurchdringlicher Schatten, ein schwarzer Schatten, der durch die Luft hüpft. Danach landet er flach auf der Erde. Den Zauberern im alten Mexiko war sehr unwohl bei dem Gedanken daran, wann er auf der Erde aufgetaucht sein mochte. Sie kamen zu dem Schluß, daß der Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt ein vollständiges Wesen gewesen sein muß, mit erstaunlichen Erkenntnissen, Verstandesleistungen, die heute mythologische Legenden sind. Und dann scheint all das verschwunden zu sein, und nun haben wir einen sedierten Menschen.«
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»Der Räuber«, sagte Don Juan, »bei dem es sich natürlich um ein anorganisches Wesen handelt, ist für uns nicht völlig unsichtbar wie andere anorganische Wesen. Ich glaube, als Kinder sehen wir ihn und kommen zu dem Schluß, er ist so entsetzlich, daß wir nicht daran denken wollen. Kinder könnten natürlich beharrlich bleiben und sich auf den Anblick konzentrieren, aber alle Menschen um sie herum halten sie davon ab.
Die einzige Alternative für die Menschheit ist Disziplin. Disziplin ist das einzige Abschreckungsmittel. Mit Disziplin meine ich keine strengen Routinen. Ich meine nicht, daß man jeden Morgen um halb sechs aufsteht und kaltes Wasser über sich kippt, bis man blau wird. Zauberer verstehen unter Disziplin die Fähigkeit, gelassen den Unkalkulierbarkeiten zu begegnen, die außerhalb unserer Erwartungen liegen. Für sie ist Disziplin eine Kunst. Es ist die Kunst, sich der Unendlichkeit zu stellen, ohne mit der Wimper zu zucken, und zwar nicht, weil sie stark und verwegen sind, sondern weil sie tiefe Ehrfurcht empfinden.«
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»In welcher Hinsicht ist die Disziplin der Zauberer ein Abschreckungsmittel?« fragte ich.
»Die Zauberer sagen, daß Disziplin die leuchtende Hülle des Bewußtseins für den Flieger ungenießbar macht«, erwiderte Don Juan und musterte mich, als suche er in meinem Gesicht nach Anzeichen von Ungläubigkeit. »Das hat zur Folge, daß der Flieger verwirrt ist. Ich nehme an, daß eine ungenießbare leuchtende Hülle des Bewußtseins nicht in ihre Erkenntniswelt paßt. Wenn er erst einmal verwirrt ist, bleibt ihm keine andere Wahl, als auf sein schändliches Vorhaben zu verzichten.
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Wenn die räuberischen Wesen unsere leuchtende Hülle des Bewußtseins eine Weile nicht verschlingen«, fuhr er fort, »wächst sie nach. Um die Sache ganz extrem zu vereinfachen, kann man sagen, daß Zauberer mit Hilfe ihrer Disziplin die Räuber lange genug zurückdrängen, damit ihre leuchtende Hülle des Bewußtseins über die Höhe der Zehen hinaus wächst. Hat sie die Höhe der Zehen überschritten, wächst sie, bis sie wieder ihre natürliche Größe erreicht hat. Die altmexikanischen Zauberer sagten, die leuchtende Hülle des Bewußtseins ist wie ein Baum. Wenn er nicht geschnitten wird, wächst er, bis er seine natürliche Größe und seinen natürlichen Umfang erreicht hat. Wenn das Bewußtsein die Ebenen erreicht, die höher als die Zehen liegen, werden unglaubliche Manöver der Wahrnehmung ganz selbstverständlich.
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Der grandiose Trick dieser Zauberer in alter Zeit«, fuhr Don Juan fort, »bestand darin, dem Bewußtsein des Fliegers Disziplin aufzubürden. Sie fanden heraus, wenn sie das Bewußtsein des Fliegers mit innerer Stille belasteten, floh der Fremdkörper. Damit wußte jeder, der diesen Vorgang durchführte, mit absoluter Sicherheit, daß das Bewußtsein einen fremden Ursprung hatte. Ich versichere dir, der Flieger kommt zurück, aber er ist nicht mehr so stark wie zuvor, und es beginnt ein Prozeß, in dem es zur Routine wird, daß das Bewußtsein des Fliegers die Flucht ergreift, bis er eines Tages endgültig flieht. Das ist dann ein trauriger Tag! An diesem Tag mußt du dich auf deine eigenen Mittel verlassen, die praktisch gleich Null sind. Niemand sagt dir, was du tun sollst. Kein Bewußtsein fremden Ursprungs diktiert dir mehr den Schwachsinn, an den du gewöhnt bist.
Mein Lehrer, der Nagual Julian, hat alle seine Schüler gewarnt und gesagt«, fuhr Don Juan fort, »daß dies der schwierigste Tag im Leben eines Zauberers ist, denn das wahre Bewußtsein, das uns gehört, die Summe unserer Erfahrungen, ist durch die lebenslange Fremdherrschaft scheu, unsicher und unbeständig geworden. Ich würde sagen, daß der wahre Kampf der Zauberer in diesem Augenblick beginnt. Alles andere ist nur die Vorbereitung darauf.«
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Zauberer haben Jahrtausende gebraucht, um ihre Wahrheit nachzuweisen und zu erhärten.«
Er sah mich an und lächelte boshaft. Das Bewußtsein des Fliegers flieht endgültig«, sagte er, »wenn es einem Zauberer gelingt, die Vibrationskraft zu packen, die uns als ein Konglomerat von Energiefeldern zusammenhält. Hält der Zauberer den Druck lange genug aufrecht, ist das Bewußtsein des Fliegers besiegt und flieht. Und genau das wirst du tun. Du wirst dich an der Energie festhalten, die dich zusammenfügt.«
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»Das Bewußtsein des Fliegers hat dich nicht aufgegeben«, sagte Don Juan. »Es ist schwer angeschlagen. Es versucht sein Bestes, seine Beziehung mit dir neu zu gestalten. Aber etwas in dir hat sich endgültig davon gelöst. Der Flieger weiß das. Die wirkliche Gefahr besteht darin, daß das Bewußtsein des Fliegers den Sieg davonträgt, weil es dich ermüdet und dadurch zum Aufgeben zwingt, daß es den Widerspruch zwischen dem, was es sagt, und dem, was ich sage, ausnutzt.
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Verstehst du, das Bewußtsein des Fliegers hat keine Konkurrenz«, fuhr Don Juan fort. »Wenn es etwas behauptet, stimmt es seiner eigenen Behauptung zu und bringt dich dazu zu glauben, du hättest etwas Verdienstvolles getan. Das Bewußtsein des Fliegers erklärt: Alles, was Don Juan Matus dir sagt, ist völliger Unsinn. Dann stimmt dasselbe Bewußtsein seiner eigenen Behauptung zu. ›Ja natürlich ist das alles Unsinn‹, sagst du dann. Auf diese Weise siegen sie über uns.
Die Flieger sind ein wesentlicher Bestandteil des Universum«, erklärte er. »Sie müssen als das angesehen werden, was sie sind – ehrfurchtgebietend und monströs. Sie sind das Medium, mit dem uns das Universum testet.
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Wir sind vom Universum geschaffene energetische Sonden«, fuhr er fort, als wäre er sich meiner Anwesenheit nicht bewußt. »Und weil wir Energie besitzen, die Bewußtsein hat, sind wir das Mittel, mit dem das Universum sich seiner selbst bewußt wird. Die Flieger sind die unerbittlichen Herausforderer. Sie können als nichts anderes angesehen werden. Wenn es uns gelingt, das zu tun, erlaubt uns das Universum, weiterzugehen.
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Mücken fern halten
Die Mücken und Fliegen überfielen mich wie Sturzkampfflugzeuge und zielten auf meine Nasenlöcher, Augen und Ohren. Don Juan riet mir, nicht auf ihr Summen zu achten.
»Versuch nicht, sie mit der Hand zu vertreiben«, erklärte er streng. »Verscheuche sie durch Wollen. Errichte eine Energiebarriere um dich. Sei still, und aus deiner Stille wird die Barriere aufgebaut. Niemand weiß, wie das geschieht. Es ist eines der Dinge, welche die alten Zauberer energetische Tatsachen nannten. Stell deinen inneren Dialog ab. Mehr ist nicht nötig.
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Schlammschatten - Flieger Begegnung
Begib dich in die innere Stille, aber schlaf nicht ein. Das ist keine Wanderung auf dem dunklen Meer des Bewußtseins. Es ist Sehen aus der inneren Stille heraus.«
Es fiel mir sehr schwer, mich in die innere Stille zu begeben, ohne einzuschlafen. Ich kämpfte gegen das beinahe ununterdrückbare Verlangen, auf der Stelle einzuschlafen. Ich hatte Erfolg und stellte fest, daß ich aus einer undurchdringlichen Dunkelheit, die mich umgab, hinunter in das Tal blickte. Dann sah ich etwas, das mir das Blut in den Adern erstarren ließ. Ich sah einen großen Schatten mit einem Durchmesser von etwa fünf Metern, der in die Luft sprang und geräuschlos auf der Erde aufschlug. Ich spürte den Aufprall in meinem Körper, doch ich hörte ihn nicht.
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»Sie sind sehr schwer«, sagte Don Juan an meinem Ohr. Er hielt mich mit aller Kraft am linken Arm fest.
Ich entdeckte etwas, das aussah wie ein Schlammschatten, der sich auf der Erde wand. Der Schatten setzte zum nächsten gewaltigen Sprung an und landete mit der gleichen ominösen Lautlosigkeit etwa fünfzehn Meter weiter. Ich rang darum, nicht meine Konzentration zu verlieren. Meine Angst überstieg alles, was ich rational beschreiben konnte. Ich hielt den Blick fest auf den hüpfenden Schatten im Tal gerichtet. Dann hörte ich ein höchst eigenartiges Summen, eine Mischung aus dem Rauschen von Flügeln und dem Brummen eines Radios, das nicht genau die Frequenz eines Senders empfängt. Der Aufprall, der darauf folgte, war unvergeßlich. Er ließ Don Juan und mich bis ins Innerste erbeben – direkt vor uns war ein riesiger Schlammschatten gelandet.
»Hab keine Angst«, sagte Don Juan herrisch. »Bewahre deine innere Stille, und er verschwindet.«
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Ich zitterte am ganzen Körper. Mir war deutlich bewußt, wenn ich meine innere Stille aufgab, würde sich der Schlammschatten wie eine Decke über mich legen und mich ersticken. Ohne daß die Dunkelheit um mich herum verschwand, schrie ich aus Leibeskräften. Ich war noch nie so wütend und so frustriert gewesen. Der Schlammschatten machte einen neuen Satz und sprang hinunter ins Tal. Ich schrie immer weiter und strampelte mit den Beinen. Ich wollte abschütteln, was immer auch gekommen sein mochte, um mich zu fressen. Meine Erregung war so stark, daß ich mein Zeitgefühl verlor.
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Das Bewusstsein zum wachsen bringen
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»Bei uns Männern dreht sich alles um unsere Zerbrechlichkeit«, fuhr er fort. »Wenn unser Bewußtsein zu wachsen beginnt, dann wächst es direkt im Mittelpunkt unseres leuchtenden Wesens wie eine Säule von unten nach oben. Diese Säule muß eine gewisse Höhe erreichen, bevor wir uns auf unser Bewußtsein verlassen können. In deinem Leben als Zauberer entgleitet dir dein neues Bewußtsein noch zu schnell. Wenn das geschieht, dann vergißt du alles, was du auf dem Weg des Krieger-Wanderers getan und gesehen hast, weil deine Wahrnehmung zurücksinkt zu den Zehen in das Bewußtsein deines alltäglichen Lebens. Ich habe dir erklärt, es ist die Aufgabe jedes männlichen Zauberers, alles zurückzugewinnen, was er auf dem Weg des Krieger-Wanderers getan und gesehen hat, während er sich auf neuen Ebenen des Bewußtseins befand. Das Problem jedes Zauberers liegt darin, daß er leicht vergißt, weil sein Bewußtsein bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die neue Ebene verläßt und zu Boden sinkt.«
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»Ich verstehe genau, was du sagst, Don Juan«, erwiderte ich. »Vielleicht ist mir heute zum ersten Mal richtig bewußt geworden, warum ich alles vergesse und warum ich mich später wieder an alles erinnere. Ich habe immer geglaubt, eine persönliche pathologische Veranlagung sei der Grund für meine Bewußtseinsveränderungen. Ich weiß jetzt, weshalb es zu diesen Veränderungen kommt, aber ich kann mein Wissen nicht in Worte fassen.«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Don Juan.
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»Im Laufe der Zeit wirst du alles in Worte fassen können. Heute mußt du aus deiner inneren Stille heraus handeln. Du mußt in Übereinstimmung mit deinem Wissen handeln, ohne zu wissen. Du weißt ganz genau, was du tun mußt, aber dieses Wissen ist in deinen Gedanken noch nicht ganz formuliert.«
Auf der Ebene klarer Gedanken und Gefühle hatte ich nur das sehr unbestimmte Gefühl, etwas zu wissen, das nicht zu meinem Bewußtsein gehörte. In diesem Augenblick hatte ich die deutliche Empfindung, daß ich einen großen Schritt nach unten gemacht hatte. Etwas schien in mich hineingefallen zu sein. Ich empfand beinahe so etwas wie einen Stoß. Ich wußte, daß ich in jenem Augenblick in eine andere Bewußtseinsebene gewechselt war.
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Don Juan erklärte mir dann, ein Krieger-Wanderer habe die Pflicht, sich von allen Menschen, die er zurückläßt, zu verabschieden. Er muß sich mit lauter und klarer Stimme verabschieden, so daß sein Rufen und seine Gefühle auf ewig in jenen Bergen wie in einem Buch aufgezeichnet bleiben.
Ich zögerte lange, aber nicht aus Scheu, sondern weil ich nicht wußte, wen ich in meinen Dank einbeziehen sollte. Ich hatte mir voll und ganz den Grundsatz der Zauberer zu eigen gemacht, daß ein Krieger-Wanderer niemandem Dank schuldet.
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Don Juan hatte mir das Prinzip eingeschärft: »Krieger-Wanderer bezahlen mit Grandezza und mit unvergleichlicher Mühelosigkeit jeden Gefallen und jeden Dienst, den ihnen jemand leistet. Auf diese Weise entledigen sie sich der Last, eine Schuld zu haben.«Ich hatte meine Schulden bezahlt, oder ich war dabei, jeden zu bezahlen, der mir mit seiner Zuwendung oder seinem Rat geholfen hatte. Ich hatte mein Leben so gewissenhaft rekapituliert, daß ich alles, aber auch alles genau unter die Lupe genommen hatte. Damals glaubte ich allen Ernstes, ich schulde niemandem mehr etwas. Ich äußerte meine Überzeugung und mein Zögern. Don Juan bestätigte mir, daß ich in der Tat mein Leben sorgfältig rekapituliert hatte. Doch, so fügte er hinzu, ich sei noch weit davon entfernt, schuldenfrei zu sein.
»Was ist mit deinen Gespenstern?« fragte er. »Ich meine alle, die du nicht mehr erreichen kannst?«
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Die Liebe zur Mutter Erde
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Don Juan erklärte mir sehr geduldig, Einsamkeit sei für einen Krieger unstatthaft. Er sagte, Krieger-Wanderer könnten sich auf ein Wesen verlassen, auf das sie alle ihre Liebe, alle ihre Gefühle konzentrieren können, und zwar auf diese wunderbare Erde, die Mutter, der Nährboden, der Mittelpunkt all dessen, was wir sind, und all dessen, was wir tun. Die Erde ist das Wesen, zu dem wir alle zurückkehren. Sie ist das Wesen, das dem Krieger-Wanderer erlaubt, sich auf die letzte Reise zu begeben.
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Abschied von Don Juan
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In einem Anflug von Unbeschwertheit wollte er mich zum letzten Mal necken. »Ich hoffe, man wird dich lieben!« sagte er, hob die Hand in meine Richtung, streckte die Finger wie ein Kind und drückte sie dann gegen die Handfläche.
»Ciao!« sagte er.
Ich wußte, es war vergeblich zu trauern oder etwas zu bedauern. Das Bleiben war für mich so schwer wie für Don Juan das Gehen. Wir waren beide in einem unabänderlichen energetischen Manöver gefangen, das keiner von uns verhindern konnte. Trotzdem wollte ich mich Don Juan anschließen und ihm folgen, wohin er auch gehen mochte. Ich dachte daran, daß er mich vielleicht mitnehmen würde, wenn ich starb.
Dann sah ich, wie sich Don Juan Matus, der Nagual, an der Spitze seiner fünfzehn anderen Seher auf den Weg machte. Es waren seine Gefährten, seine Schützlinge und sein Stolz. Einer nach dem anderen verschwand im Dunst der Mesa in Richtung Norden. Ich sah, wie sich jeder in einen leuchtenden Tropfen verwandelte. Sie stiegen zusammen auf und schwebten über der Hochebene wie Phantomlichter am Himmel. Einmal umkreisten sie den Berg, so wie es Don Juan angekündigt hatte. Es war ein letztes Schauen, das, was nur für ihre Augen bestimmt war. Es war ihr letzter Blick auf die wunderbare Erde.
Dann waren sie verschwunden. Ich wußte, was ich tun mußte. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Ich rannte, so schnell ich konnte, auf den Abgrund zu und sprang über den Rand. Ich spürte einen Augenblick lang den Wind in meinem Gesicht, und dann umgab mich die tröstliche Schwärze wie ein sanfter friedlicher unterirdischer Fluß.
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Wasser als eine Art Reinigung
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Aus alter Gewohnheit ließ ich mir ein Bad einlaufen und setzte mich in die Wanne. Ich spürte die Wärme des Wassers nicht. Mir war eiskalt. Von Don Juan hatte ich gelernt, daß man in einer Krise wie dieser laufendes Wasser als eine Art Reinigung benutzen muß. Das fiel mir ein, und ich ging in die Dusche. Ich ließ vielleicht eine Stunde lang das heiße Wasser über meinen Körper laufen.
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Anmerkung des Autors
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Das Konzept Intention / Wollen ist äußerst schwierig zu verstehen. Der lateinische Ursprung des Wortes Intention suggeriert einen Begriff, der leicht zu verstehen ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich empfehle, diesen Begriff mit einer Reihe von Verben, einer Umschreibung zu übersetzen. Intention / Wille oder Intendieren / Wollen kann nicht mit einem einzigen Wort definiert werden, denn es handelt sich um einen Vorgang, der am besten in eine Vielzahl von Worten gefaßt wird.
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