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Die Lehren des Don Juan

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Quelle: Die Lehren des Don Juan

Der Verbündete

 

 

«Dann sagte er, er wolle mich in genau der gleichen Weise über einen »Verbündeten« unterrichten, in der es ihn sein eigener Wohltäter gelehrt hatte. Er legte sehr starke Betonung auf die Worte

 

»in genau der gleichen Weise« und wiederholte diese Wendung mehrere Male.

Ein »Verbündeter«, sagte er, ist eine Macht, die ein Mann in sein Leben einbezichen kann, damit sie ihm hilft, ihm rät und ihm die nötige Kraft zu großen und kleinen, richtigen oder verkehrten Taten gibt.

Dieser Verbündete ist notwendig, um das Leben eines Mannes zu erhöhen, seine Handlungen zu lenken und sein Wissen zu fördern.

Ein Verbündeter ist wirklich eine unentbehrliche Hilfe zum Wissen. Don Juan sagte dies mit grosser Überzeugung und mit Nachdruck. Er schien seine Worte vorsichtig zu wählen.

 

Er wiederholte den folgenden Satz viermal:

 

»Ein Verbündeter wird dich lehren, Dinge zu sehen und zu verstehen, die dir ein Mensch unmöglich klarmachen könnte.«

 

»Ist ein Verbündeter so etwas wie ein beschützender Geist?«

 

»Er ist weder ein Beschützer, noch ein Geist. Er ist eine Hilfe.«

 

»Ist Mescalito dein Verbündeter?«

 

»Nein! Mescalito ist eine andere Art Macht. Eine einzigartige Macht! Ein Beschützer, ein Lehrer. «

 

»Worin unterscheidet sich Mescalito von einem Verbündeten?«

 

»Er kann nicht so gezähmt und genutzt werden, wie ein Verbündeter gezähmt und genutzt wird. Mescalito ist nicht in uns. Wer immer vor ihm steht, egal ob diese Person ein brujo oder Farmjunge ist - er wählt viele verschiedene Formen, um sich zu zeigen. « 

Die Vier natürlichen Feinde

Sonntag, 15. /April 1962

Kurz bevor ich wegfahren wollte, entschloß ich mich, ihn noch einmal nach den Feinden eines Wissenden zu fragen. Ich erklärte ihm, daß ich für einige Zeit nicht wiederkommen könnte, und daß es gut sein würde, das aufzuschreiben, was er zu sagen hätte, denn ich könnte darüber nachdenken, während ich fort war. Er zögerte eine Weile, aber dann begann er zu sprechen.

 

»Wenn ein Mann anfängt zu lernen, ist er sich über seine Ziele nicht klar. Sein Vorsatz ist schlecht; seine Absicht ist vage. Er hofft auf Belohnungen, die niemals eintreffen werden, denn er weiß nichts von den Härten des Lernens. Er beginnt langsam zu lernen - zuerst Schritt für Schritt, dann in großen Sprüngen. Und bald sind seine Gedanken durcheinander. Was er lernt, ist nicht, was er sich ausgemalt hat, und so beginnt er sich zu ängstigen. Lernen ist niemals, was man erwartet. Jeder Schritt des Lernens ist eine neue Aufgabe, und das Erleben der Furcht nimmt erbarmungslos und unnachgiebig zu. Sein Vorsatz wird ein Schlachtfeld. Und so ist er über den ersten seiner natürlichen Feinde gestolpert: die Furcht! Ein schrecklicher Feind — tückisch und schwierig zu überwinden. Er bleibt an jeder Wegbiegung verborgen, lauernd, wartend. Und wenn der Mann, erschreckt durch ihre Anwesenheit, fortläuft, wird sein Feind seine Suche beendet haben.«

 

»Was geschieht mit dem Mann, wenn er aus Furcht fortläuft?«

 

»Nichts geschieht ihm, nur wird er niemals lernen. Er wird nie mals ein Wissender werden. Er wird vielleicht ein Angeber oder ein harmloser, ängstlicher Mann; auf jeden Fall wird er ein geschlagener Mann sein. Sein erster Feind wird seinem Verlangen ein Ende gesetzt haben. «

»Und wie kann er die Furcht überwinden ?«

»Die Antwort ist sehr einfach. Er darf nicht fortlaufen. Er muß seine Furcht besiegen, er muß ihr trotzen und den nächsten Schritt des Lebens gehen und den nächsten und den nächsten. Er muß nur aus Furcht bestehen, und doch darf er nicht aufhören. Das ist die Regel! Und ein Moment wird kommen, wo sein erster Feind zurückweicht. Der Mann beginnt, sich seiner selbst sicher zu sein. Sein Vorsatz wird stärker. Lernen ist nicht länger eine erschreckende Aufgabe.

Wenn dieser glückliche Augenblick kommt, kann der Mann ohne Zögern sagen, daß er seinen ersten natürlichen Feind besiegt hat.«

»Geschieht es plötzlich, Don Juan, oder allmählich?«

»Es geschieht allmählich, doch wird die Furcht plötzlich und schnell überwunden. «

Aber wird ein Mann sich nicht wieder fürchten, wenn ihm etwas Neues geschieht?«

»Nein. Wenn ein Mann einmal die Furcht überwunden hat, ist er für den Rest seines Lebens frei von ihr, weil er statt der Furcht Klarheit gewonnen hat - eine Klarheit der Gedanken, die die Furcht auslöscht. Aber dann kennt ein Mann seine Wünsche: er weiß sie zu befriedigen. Er kann die neuen Schritte des Lernens voraussehen, und alles ist von deutlicher Klarheit umgeben. Der Mann fühlt, daß nichts verborgen ist. Und so hat er seinen zweiten Feind getroffen: die Klarheit! Diese Klarheit der Gedanken, die so schwierig zu erlangen ist, vertreibt die Furcht, aber sie macht auch blind.

Sie zwingt den Mann, sich niemals selbst anzuzweifeln. Sie gibt ihm die Sicherheit, alles zu tun, was ihm gefällt, denn er sieht klar in alle Dinge. Und er ist mutig, denn er ist sicher, und er schreckt vor nichts zurück, weil er sich eben sicher ist. Aber all das ist ein Fehler: es ist wie etwas Unvollständiges. Wenn der Mann dieser vorgetäuschten Macht nachgibt, ist er von seinem zweiten Feind besiegt worden, und er wird mit dem Lernen spielen. Er wird eilen, wenn er geduldig sein sollte, oder er wird geduldig sein, wenn er eilen sollte. Und er wird mit dem Lernen spielen, bis er endet, unfähig, noch irgend etwas zu lernen. » »Was wird aus dem Mann, der so besiegt wird, Don Juan? Stirbt er deswegen?«

»Nein, er stirbt nicht. Sein zweiter Feind hat ihn nur kaltgestellt bei seinem Versuch, ein Wissender zu werden; statt dessen könnte aus ihm ein gleichgültiger Kämpfer oder Clown werden. Aber die Klarheit, für die er so teuer bezahlt hat, wird sich nie wieder in Dunkel und Angst verwandeln. Er wird klar sehen, so lange er lebt, aber er wird nichts mehr lernen oder nach irgend etwas suchen. «

»Was muß er tun, um nicht besiegt zu werden ?«

»Er muß tun, was er mit der Furcht getan hat: er muß seiner Klarheit trotzen und nur mit ihr sehen und geduldig warten und vorsichtig erwägen, bevor er neue Schritte tut; er muß vor allem denken, daß seine Klarheit fast ein Fehler ist. Und ein Augenblick wird kommen, da er verstehen wird, daß seine Klarheit nur ein Punkt vor seinen Augen war. Und so wird er seinen zweiten Feind besiegt haben, und er wird in eine Lage kommen, in der ihm nichts mehr schaden kann. Das wird sein Fehler sein. Es wird nicht nur ein Punkt vor seinen Augen sein. Es wird wahre Macht sein.

Zu diesem Zeitpunkt wird er wissen, daß die Macht, die er so lange gesucht hat, endlich die seine ist. Er kann mit ihr machen, was immer ihm einfällt. Er beherrscht seinen Verbündeten. Sein Wunsch ist das Gesetz. Er sieht alles, was um ihn ist. Aber er hat auch seinen dritten Feind getroffen: die Macht!

Macht ist der stärkste aller Feinde. Und natürlich ist es das einfachste, nachzugeben; schließlich ist der Mann wirklich unbesiegbar. Er befiehlt; er beginnt berechnete Risiken einzugehen und macht schließlich Gesetze, denn er ist der Herrscher.

Ein Mann auf dieser Stufe bemerkt kaum, wie der dritte Feind ihn einkreist. Und plötzlich wird er, ohne es zu erkennen, gewiß seinen Kampf verloren haben. Sein Feind wird ihn zu einem grausamen, unberechenbaren Menschen gemacht haben. «

»Wird er seine Macht verlieren ?«

»Nein, er wird nie seine Klarheit oder seine Macht verlieren. « »Was wird ihn dann von einem Wissenden unterscheiden?« »Ein Mann, der von der Macht besiegt ist, stirbt, ohne wirklich gewußt zu haben, wie mit ihr umzugehen ist. Macht ist nur eine Last über seinem Schicksal. Solch ein Mann hat keine Gewalt über sich selbst und kann nicht entscheiden, wann oder wie er seine Macht anwenden soll. «

»Ist die Niederlage durch einen dieser Feinde eine endgültige Niederlage?«

»Natürlich ist sie endgültig. Wenn einer dieser Feinde einen Mann einmal zu Fall bringt, gibt es nichts, was er tun kann. « »Ist es zum Beispiel möglich, daß der Mann, der von der Macht besiegt wurde, seinen Fehler einsieht und auf seinem Weg umkehrt ?«

»Nein. Wenn ein Mann einmal nachgibt, ist er erledigt. «

»Aber was geschieht, wenn er nur vorübergehend von der Macht geblendet wird und sie dann zurück weist ?«

»Das bedeutet, daß sein Kampf noch weitergeht. Das bedeutet, daß er noch immer versucht, ein Wissender zu werden. Ein Mann ist nur dann besiegt, wenn er es nicht länger versucht und sich selbst aufgibt. «

»Aber ist es dann nicht möglich, Don Juan, daß ein Mann sich vielleicht jahrelang der Furcht ergibt, aber sie schließlich besiegt?«

»Gewiß nicht. Wenn er sich der Furcht ergibt, wird er sie niemals besiegen, weil er das Lernen scheuen und es nie wieder versuchen wird. Aber wenn er inmitten seiner Furcht jahrelang zu lernen versucht, wird er sie eventuell besiegen, weil er sich ihr niemals wirklich ergeben hat. «

»Wie kann er seinen dritten Feind besiegen, Don Juan?«

»Er muß ihn vorsätzlich herausfordern. Er muß einsehen, daß die Macht, die er scheinbar gewonnen hat, niemals wirklich sein ist. Er muß sich zu jeder Zeit selbst beherrschen und alles, was er gelernt hat, vorsichtig und ehrlich gebrauchen. Wenn er sieht, daß Klarheit und Macht ohne Selbstbeherrschung schlimmer als Fehler sind, wird er einen Punkt erreichen, wo sich ihm alles fügt. Dann wird er wissen, wann und wie er seine Macht gebraucht. Und so wird er seinen dritten Feind besiegt haben. Der Mann wird am Ende seiner Reise des Lernens sein, und fast unversehens wird er dem letzten seiner Feinde begegnen: dem Alter! Dieser Feind ist der grausamste von allen, er ist der, den er nicht völlig schlagen, sondern nur bekämpfen kann.

Das ist die Zeit, da ein Mann keine Furcht mehr kennt, keine ungeduldige Klarheit der Gedanken — das ist eine Zeit, da er seine ganze Macht beherrscht, aber es ist auch die Zeit, da er ein unüberwindliches Verlangen nach Ruhe hat. Wenn er seinem Verlangen, auszuruhen und zu vergessen, völlig nachgibt, wenn er sich selbst in Müdigkeit wiegt, wird er seine letzte Runde verloren haben, und sein Feind wird ihn zu einem schwachen, alten Geschöpf niederstrecken. Sein Verlangen, sich zurückzuziehen, wird all seine Klarheit, seine Macht und sein Wissen unterdrücken.

Aber wenn der Mann seine Müdigkeit abschüttelt und sein Schicksal zu Ende lebt, kann er ein Wissender genannt werden, wenn auch nur für den kurzen Augenblick, da es ihm gelingt, seinen letzten unbesiegbaren Feind abzuschütteln. Dieser Augenblick der Klarheit, der Macht und des Wissens ist genug. «

Der Weg des Herzens

Jedes Ding ist eins von Millionen Wegen (un camino entre cantidades de caminos). Darum mußt du immer daran denken, daß ein Weg nur ein Weg ist. Wenn du fühlst, daß du ihn nicht gehen willst, mußt du ihm unter gar keinen Umständen folgen. Um so viel Klarheit zu haben, mußt du ein diszipliniertes Leben führen. Nur dann wirst du wissen, daß ein Weg nur ein Weg ist, und dann ist es für dich oder für andere keine Schande, ihm nicht zu folgen, wenn es dein Herz dir sagt. Aber deine Entscheidung, auf dem Weg zu bleiben oder ihn zu verlassen, muß frei von Furcht oder Ehrgeiz sein. Ich warne dich. Sich dir den Weg genau und aufmerksam an. Versuche ihn, so oft es dir notwendig erscheint. Dann stell dir, und nur dir selbst, eine Frage. Diese Frage ist eine, die sich nur alte Männer stellen. Mein Beschützer nannte sie mir einmal, als ich jung und mein Blut zu unruhig war, um sie zu verstehen.

Heute verstche ich sie. Ich will dir sagen, wie sie lautet: Ist dieser Weg ein Weg mit Herz? Alle Wege sind gleich: sie führen nirgendwo hin. Es gibt Wege, die durch den Busch führen oder in den Busch. Ich kann sagen, daß ich in meinem eigenen Leben langen, langen Wegen gefolgt bin, aber ich bin nirgendwo. Heute bedeutet die Frage meines Wohltäters etwas. Ist es ein Weg mit Herz? Wenn er es ist, ist der Weg gut; wenn er es nicht ist, ist er nutzlos. Beide Wege führen nirgendwo hin, aber einer ist der des Herzens, und der andere ist es nicht. Auf einem ist die Reise voller Freude, und solange du ihm folgst, bist du eins mit ihm. Der andere wird dich dein Leben verfluchen lassen. Der eine macht dich stark, der andere schwächt dich.«

 

 

Das Teufelskraut und der Rauch

 

Donnerstag, 31. Dezember 1964

»Jetzt, da du ein bißchen mehr über das Teufelskraut und den Rauch weißt, kannst du besser beurteilen, ob du das eine oder den anderen lieber magst«, sagte Don Juan. »Der Rauch erschreckt mich wirklich, Don Juan. Ich weiß nicht genau warum, aber ich habe kein Gefühl dabei. « »Du magst Schmeichelei, und das Teufelskraut schmeichelt dir. Wie eine Frau gibt es dir ein gutes Gefühl. Der Rauch jedoch ist die erhabenste Macht, er hat das reinste Herz. Er verführt die Männer nicht oder macht sie zu Gefangenen, noch liebt oder haßt er. Er verlangt nichts außer Kraft. Das Teufelskraut verlangt auch Kraft, aber eine andere Art. Es ist mehr wie die Stärke gegenüber den Frauen. Die Stärke jedoch, die der Rauch verlangt, ist die Stärke des Herzens. Du hast sie nicht! Aber sehr wenige Männer haben sie. Darum rate ich dir, mehr über den Rauch zu lernen. Er gibt dem Herzen Kraft. Er ist nicht wie das Teufelskraut voller Leidenschaft, Eifersucht und Gewalt. Der Rauch ist beständig. Du brauchst dir keine Sorgen darum zu machen, irgendwann etwas zu vergessen. «

Die Kampfhaltung

Ich fragte ihn, wozu das alles sei und gegen wen ich kämpfen würde. Er antwortete, daß er fortgehen werde, um zu sehen, wer meine Seele genommen hatte und herausfinden wolle, ob es möglich sei, sie zurückzuholen. In der Zwischenzeit sollte ich bis zu seiner Rückkehr auf meiner Stelle bleiben. Die Kampfhaltung war in Wirklichkeit eine Vorsichtsmaßnahme, sagte er, falls etwas während seiner Abwesenheit passierte, und sie mußte angewandt werden, falls ich angegriffen würde. Sie bestand im Schlagen der Wade und des Oberschenkels meines rechten Beines und dem Aufstampfen des linken Fußes in einer Art Tanz, den ich tanzen mußte, während ich dem Angreifer gegenüberstand.

Er ermahnte mich, diese Haltung nur in Momenten äußerster Gefahr einzunehmen, aber solange keine Gefahr bestand, sollte ich einfach mit gekreuzten Beinen auf meiner Stelle sitzen. In Augenblicken äußerster Gefahr jedoch, sagte er, könne ich zu einem letzten Mittel der Verteidigung greifen — einen Gegenstand gegen den Feind schleudern. Er sagte, daß man gewöhnlich ein Macht-Objekt wirft, aber da ich keines besaß, war ich gezwungen, irgendeinen kleinen Stein zu nehmen, der in die Fläche meiner rechten Hand paßte. Es mußte ein Stein sein, den ich mit dem Daumen gegen die Handfläche pressen konnte. Er sagte, daß man diese Methode nur anwenden soll, wenn man unbestreitbar in Gefahr sei, das Leben zu verlieren. Das Schleudern des Objekts mußte von einem Kriegsschrei begleitet werden, ein Schrei, der die Eigenschaft hatte, das Objekt auf sein Ziel zu lenken. Entschieden ermahnte er mich, mit dem Schrei vorsichtig und überlegt zu sein, ihn nicht blindlings anzuwenden, sondern nur »im genauen Bewußtsein der ernsten Situation«.

Ich fragte ihn, was er mit dem »genauen Bewußtsein der ernsten Situation« meinte. Er sagte, daß der Ausruf oder Kriegsschrei etwas sei, das einem Menschen für die Dauer seines Lebens bleibe; deshalb müsse er von Anfang an gut sein. Er müsse richtig begonnen, das heißt, die angeborene Furcht und Hast unterdrückt werden, bis man völlig mit Kraft durchdrungen sei, und dann würde der Schrei mit Ziel und Kraft ausbrechen. 

 

Der Riss zwischen den Welten

»Das Besondere zu lernen bedeutet, wie man den Riß zwischen den Welten erreicht und wie man die andere Welt betritt. Es gibt einen Riß zwischen den zwei Welten, der Welt der diableros und der Welt der lebenden Menschen. Es gibt einen Ort, wo sich die beiden Welten überschneiden. Dort ist der Riß. Er öffnet und schließt sich wie eine Tür im Wind. Um dorthin zu gelangen, muß ein Mensch seinen Willen üben. Ich würde sagen, er muß ein unbezähmbares Verlangen danach entwickeln - eine zielstrebige Hingabe. Aber er muß es ohne die Hilfe irgendeiner Macht oder irgendeines Menschen tun. Der Mensch muß allein nachdenken und es bis zu einem Augenblick wünschen, in dem sein Körper bereit ist, die Reise aufzunehmen. Dieser Augenblick wird durch anhaltendes Zittern der Glieder und heftiges Erbrechen angekündigt. Der Mann kann gewöhnlich weder schlafen noch essen — es geht ihm immer schlechter. Wenn die Krämpfe nicht aufhören, ist der Mann bereit zu gehen, und der Riß zwischen den Welten erscheint direkt vor seinen Augen, wie eine riesige Tür, ein Riß, der nach oben und unten geht. Wenn der Riß sich öffnet, muß der Mann durch ihn hindurchgleiten. Es ist schwierig, auf der anderen Seite der Grenze zu sehen. Es ist windig wie bei einem Sandsturm.

Der Wind wirbelt umher.

 

Der Mann muß dann in irgendeine Richtung gehen. Je nach seiner Willensstärke wird es eine kurze oder eine lange Reise sein. Ein willensstarker Mann reist kurze Zeit. Ein unentschlossener, schwacher Mann reist lange und gefährlich. Nach dieser Reise kommt der Mann an eine Art Plateau. Es ist möglich, einige seiner Merkmale klar zu unterscheiden. Es ist eine Ebene über dem Boden. Es ist möglich, sie am Wind zu erkennen, der dort noch wilder wird und überall pfeift und dröhnt. Auf den Höhen dieses Plateaus ist der Eingang zu jener anderen Welt. Und dort befindet sich eine Haut, die die zwei Welten trennt; tote Männer durchqueren sie ohne Geräusch, aber wir müssen sie mit einem Aufschrei durchbrechen.

Der Wind nimmt an Stärke zu, der gleiche, widerspenstige Wind, der auf dem Plateau weht. Wenn der Wind genug Kraft gesammelt hat, muß der Mensch schreien, und der Wind wird ihn hindurchstoßen. Auch hier muß sein Wille unbeugsam sein, damit er gegen den Wind ankämpfen kann.

Er braucht nur einen leichten Schub; er muß nicht an das Ende jener anderen Welt geblasen werden. Wenn er einmal auf der anderen Seite ist, wird der Mann umherwandern müssen. Sein großes Glück wäre es, in der Nähe einen Helfer zu finden - nicht zu weit von dem Eingang. Der Mann muß ihn um Hilfe bitten.

 

 

Ein Wissender werden

 

Ein Wissender zu werden war eine Sache anstrengender Arbeit Ein Wissender mußte eine umfassende Fähigkeit zu großen Anstrengungen besitzen, oder er mußte sie im Verlauf seiner Übungen entwickeln. Don Juan erklärte, ein Wissender zu werden sei eine Sache anstrengender Arbeit. Anstrengende Arbeit bedeutete die Fähigkeit, (1) dramatische Anstrengung aufzubringen; (2) Wirksamkeit zu erreichen; und (3) Herausforderung annehmen zu können.

Auf dem Weg des Wissenden war das Drama zweifellos der herausragende einzelne Punkt, und eine besondere Art Anstrengung war notwendig, um auf die Umstände zu reagieren, die dramatischen Einsatz verlangten; das heißt, ein Wissender mußte zu dramatischer Anstrengung fähig sein. Wenn man Don Juans Verhalten als Beispiel nahm, hätte es auf den ersten Blick so aussehen können, daß seine dramatische Anstrengung nur seine persönliche Vorliebe zur Theatralik war. Doch war seine dramatische Anstrengung immer viel mehr als nur Schauspielerei; sie war eher ein tiefes Überzeugtsein. Durch dramatische Anstrengung verlieh er allen seinen Handlungen die besondere Qualität der Endgültigkeit. Als Konsequenz vollzogen sich seine Handlungen auf einer Bühne, auf der der Tod einer der Hauptdarsteller war. Der Tod war aufgrund der an sich gefährlichen Natur der Dinge, mit welchen sich ein Wissender befaßte, als reale Möglichkeit stillschweigend in den Verlauf der Übungen miteinbezogen. Es war deshalb nur logisch, daß die dramatische Anstrengung, die durch die Überzeugung hervorgerufen wurde, daß der Tod ein allgegenwärtiger Mitspieler sei, mehr als Theatralik war.

Anstrengung hatte nicht nur das Drama, sondern auch das Bedürfnis nach Wirksamkeit zur Folge. Die Anstrengung mußte wirksam sein; sie mußte richtig gelenkt und angemessen sein. Der Gedanke des drohenden Todes rief nicht nur die zu allgemeiner Eindrücklichkeit benötigte Dramatik hervor, sondern auch die Überzeugung, daß jede Handlung einen Kampf ums Überleben einschloß, die Überzeugung, daß Auslöschung folgen würde, falls die eigene Anstrengung der Anforderung zur Wirksamkeit nicht entspräche.

Anstrengung schloß auch den Gedanken der Herausforderung ein, das heißt, den Akt des Prüfens, ob, und des Beweises, daß einer fähig war, innerhalb der starren Grenzen des vermittelten Wissens eine richtige Handlung auszuführen. 

Bewusstheit

Don Juan versicherte, daß man die Furcht nur besiegen könne, wenn man sich ihr stelle.
Als Krieger mußte ein Wissender auch hellwach sein. Ein Mann im Krieg mußte auf der Hut sein, um der meisten der Faktoren gewahr zu sein,

die zu den hauptsächlichsten Aspekten der Bewußtheit gehörten: (1) Bewußtheit der Absicht und (2) Bewußtheit der erwarteten Veränderung.

Bewußtheit der Absicht war die Kenntnis von den Faktoren, die in der Beziehung zwischen der spezifischen Absicht irgendeiner dem Zwang unterworfenen Handlung und der eigenen spezifischen Absicht zu handeln eine Rolle spielten. Da alle dem Zwang unterworfenen Handlungen einer bestimmten Absicht dienten, mußte ein Wissender hellwach sein; das heißt, er mußte zu allen Zeiten imstande sein, der bestimmten Absicht jeder dem Zwang unterworfenen Handlung die bestimmte Absicht gegenüberzustellen, die er in seinem Verlangen zu handeln im Sinn hatte. Indem ein Wissender sich dieser Beziehung bewußt war, war er auch fähig zu erkennen, worin die erwartete Veränderung bestand. Was ich hier »Bewußtheit der erwarteten Veränderung« genannt habe, bezog sich auf die Gewißheit, daß man jederzeit fähig war, die wichtigen Variablen zu erkennen, die in der Beziehung zwischen der spezifischen Absicht jeder Handlung und der eigenen spezifischen Absicht zu handeln beteiligt waren. In der Bewußtheit der erwarteten Veränderung hatte man die subtilsten Abweichungen aufzuspüren. Diese klare Bewußtheit der Veränderung bewirkte Erkenntnis und Interpretation von Omen und anderen ungewöhnlichen Ereignissen.

Der letzte Aspekt der Vorstellung vom Verhalten eines Kriegers war die Notwendigkeit des Selbstvertrauens, das heißt der Sicherheit, daß die spezifische Absicht einer Handlung, zu deren Ausführung man sich vielleicht entschieden hatte, die einzig einleuchtende Möglichkeit für die eigenen spezifischen Absichten zum Handeln war. Ohne Selbstvertrauen wäre man nicht imstande gewesen, einen der wichtigsten Aspekte der Lehren zu entwickeln: Die Fähigkeit, Wissen als Macht zu beanspruchen.

 

 

 

Die zweite Einheit

Ein Wissender hatte einen Verbündeten.


Der Gedanke, daß ein Wissender einen Verbündeten hatte, war der wichtigste der sieben Schwerpunkte, da er der einzige war, der zur Erklärung dessen, was ein Wissender ist, unerläßlich war. In Don Juans klassifizierendem Schema hatte ein Wissender einen Verbündeten, während der gewöhnliche Mann keinen hatte, und einen Verbündeten zu haben unterschied ihn vom gewöhnlichen Menschen.

Don Juan beschrieb einen Verbündeten als »eine Macht, fähig einen Menschen über seine eigenen Grenzen hinauszutragen«; das heißt, ein Verbündeter war eine Macht, die einem erlaubte, die Sphäre der alltäglichen Wirklichkeit zu überschreiten. Folglich bedeutete der Besitz eines Verbündeten den Besitz von Macht; und die Tatsache, daß ein Wissender einen Verbündeten hatte, war in sich selbst der Beweis, daß das operative Ziel der Lehren erfüllt worden war. Da es dieses Ziel war, zu zeigen, wie man ein Wissender wurde, und da ein Wissender jemand war, der einen Verbündeten hatte, ließe sich das operative Ziel von Don Juans Lehren auch damit beschreiben, daß man sagte, die Lehren zeigten unter anderem, wie man einen Verbündeten gewann. Der Begriff »der Wissende« als der theoretische Rahmen eines Zauberers war für jemanden, der in diesem Rahmen leben wollte, nur dann sinnvoll, wenn er einen Verbündeten hatte.

Ich habe diesen letzten Schwerpunkt des Begriffs »ein Wissender« als die zweite strukturelle Haupteinheit klassifiziert, weil sie zur Erklärung dessen, was ein Wissender war, unentbehrlich ist.

In Don Juans Lehren gab es zwei Verbündete. Der erste war in den Datura-Pflanzen enthalten, die allgemein als Jimson Weed bekannt sind. Don Juan nannte diesen Verbündeten mit einem der spanischen Namen für diese Pflanze yerba del diablo (Teufelskraut). Seiner Meinung nach war jede Datura-Art ein Träger des Verbündeten. Jeder Zauberer mußte jedoch ein Feld von einer Spezies anlegen, die er sein eigen nannte, nicht nur in dem Sinn, daß die Pflanzen sein privates Eigentum waren, sondern auch in dem Sinn, daß man sie mit ihm persönlich identifizierte.

Don Juans eigene Pflanzen gehörten zur Spezies inoxia; es schien jedoch zwischen dieser Tatsache und den Unterschieden, die zwischen den beiden ihm zugänglichen Spezies von Datura bestanden haben könnten, keine Wechselbeziehung zu geben.

Der zweite Verbündete war in einem Pilz enthalten, den ich zum Genus Psilocybe zählte; es war wahrscheinlich Psilocybe mexicana, aber die Klassifikation geschah nur versuchsweise, denn es gelang mir nicht, ein Exemplar zur Laboranalyse zu beschaffen. Don Juan nannte diesen Verbündeten Humito (kleiner Rauch) und deutete damit an, daß der Verbündete dem Rauch glich oder der Rauchmixtur, die er aus dem Pilz herstellte. Er bezog sich auf den Rauch so, als sei dieser der wirkliche Träger, doch stellte er klar, daß die Macht nur mit einer einzigen Art von Psilocybe verbunden war; so war beim Sammeln besondere Aufmerksamkeit nötig, damit man sie nicht mit irgendeiner von einem Dutzend anderer Spezies desselben Genus verwechselte, die im selben Gebiet wuchsen.

Ein Verbündeter als Begriff enthielt die folgenden Vorstellungen und ihre Verzweigungen: (1) ein Verbündeter war gestaltlos; (2) ein Verbündeter wurde als eine Qualität wahrgenommen; (3) ein Verbündeter konnte gezähmt werden; (4) ein Verbündeter hatte eine Regel.

Ein Verbündeter ist zähmbar

Der Gedanke, daß ein Verbündeter zähmbar war, implizierte, daß er eventuell als Macht genutzt werden konnte. Don Juan erklärte es als die einem Verbündeten innewohnende Fähigkeit, nutzbar zu sein; nachdem ein Zauberer einen Verbündeten gezähmt hatte, so glaubte man, verfüge er über dessen besondere Macht; dies bedeutete, daß er sie zu seinem eigenen Vorteil manipulieren konnte. Die Möglichkeit, einen Verbündeten zu zähmen, wurde der Unmöglichkeit gegenübergestellt, andere Mächte zu zähmen, die einem Verbündeten ähnlich waren, außer daß sie sich nicht dazu hergaben, sich manipulieren zu lassen.

Die Manipulation eines Verbündeten hatte zwei Aspekte: (1) ein Verbündeter war ein Vehikel; (2) ein Verbündeter war ein Helfer. Ein Verbündeter war insofern ein Vehikel, als er dazu diente, einen Zauberer in die Sphäre nicht-alltäglicher Wirklichkeit zu transportieren. Nach meiner eigenen Erfahrung dienten beide Verbündete als Vehikel, obwohl diese Funktion für jeden von ihnen etwas anderes bedeutete.

Die alles beherrschenden, unerwünschten Eigenschaften des in Datura inoxia enthaltenen Verbündeten, besonders seine Unberechenbarkeit, machten ihn zu einem gefährlichen, unzuverlässigen Vehikel. Das Ritual war der einzig mögliche Schutz gegen seine Unbeständigkeit, aber das war niemals genug, um die Stabilität des Verbündeten zu sichern; ein Zauberer, der diesen Verbündeten als Vehikel benutzte, mußte auf günstige Omen warten, bevor er handelte.

Der in Psilocybe mexicana enthaltene Verbündete andererseits wurde wegen seiner wertvollen Eigenschaften für ein beständiges und berechenbares Vehikel gehalten. Infolge seiner Berechenbarkeit brauchte ein Zauberer, der diesen Verbündeten benutzte, sich nicht auf irgendeine Art vorbereitenden Rituals einzulassen.

Der andere Aspekt der Manipulierbarkeit eines Verbündeten wurde in dem Gedanken ausgedrückt, daß der Verbündete ein Helfer war. Dies bedeutete, daß er, nachdem er einem Zauberer als Vehikel gedient hatte, erneut dazu dienen konnte, ihm als Stütze oder Führer zur Erreichung aller Ziele beizustehen, die ihm vorschwebten, wenn er sich in den Bereich nicht-alltäglicher Wirklichkeit begab. In ihrer Kapazität als Helfer besaßen die beiden Verbündeten verschiedene, einzigartige Eigenschaften. Die Vielfalt und die Verwendbarkeit dieser Eigenschaften vergrößerte sich, während man auf dem Weg des Lernens voranschritt. Allgemein gesehen aber hielt man den in Datura inoxia enthaltenen Verbündeten für einen außergewöhnlichen Helfer, und diese Fähigkeit dachte man sich als Folge seiner Neigung, überreichliche Macht zu verleihen. Den in Psilocybe mexicana enthaltenen Verbündeten jedoch hielt man für einen Helfer, der sogar noch außergewöhnlicher war. Don Juan hielt ihn für unvergleichlich in seiner Funktion als Helfer, die er als Erweiterung seiner allgemein wertvollen Qualitäten betrachtete.

 

 

 


 

 

 



 

eine andere Wirklichkeit.jpg

Ein Weg unter vielen Wegen

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