

Das Feuer von Innen
Das Feuer von Innen
Quelle: Das Feuer von Innen
Die Seher können zum Beispiel die Emanationen im Innern des Kokon sehen und erkennen, welche der äußeren Emanationen mit ihnen übereinstimmen.»Sind die Emanationen so etwas wie Lichtstrahlen?« fragte ich.
»Nein. Gar nicht. Das wäre zu einfach. Sie sind etwas Unbeschreibliches. Und doch würde ich sagen, sie sind so etwas wie Lichtfäden. Was dem Normal-Bewußtsein unbegreiflich ist, ist die Tatsache, daß diese Fäden bewußt sind. Ich kann dir nicht sagen, was dies bedeutet, weil ich das, wovon ich rede, nicht mit Sicherheit weiß. Mit meiner persönlichen: Auffassung kann ich dir nur drei Dinge sagen: Die Fäden sind ihrer selbst bewußt, lebendig und vibrierend. Es sind so viele, daß Zahlenangaben sinnlos wären. Und jeder einzelne ist für sich selbst eine Ewigkeit.«
Sexualität:
Aber er brauchte nur einen Blick auf mich zu werfen, um festzustellen, dass mein Pimmel nur zum Pinkeln taugt. Er sagte, ich hätte nicht genug Energie, um Sex zu machen. Meine Eltern, sagte er, waren zu gelangweilt und zu müde, als sie mich machten; er sagte, ich sei das Ergebnis von sehr langweiligem Sex - cojida aburrida. Und so kam ich auf die Welt, gelangweilt und müde. Der Nagual Julian empfahl, Leute wie ich sollten besser keinen Sex machen; so könnten wir das bißchen Energie, das wir haben, aufspeichern.
Dasselbe sagte er zu Silvio Manuel und zu Emilito. Bei den anderen sah er, daß sie genug Energie hatten. Sie waren nicht das Ergebnis von langweiligem Sex. Er sagte ihnen, sie könnten mit ihrer sexuellen Energie machen, was sie wollten, aber er empfahl ihnen doch, sich zu kontrollieren und den Befehl des Adlers zu begreifen, daß Sex dazu da ist, um die Glut der Bewußtheit zu verschenken. Wir alle sagten, wir hätten verstanden.
Die drei Arten der Aufmerksamkeit
»Die Seher sagen, Dass es drei Arten von Aufmerksamkeit, gibt«, fuhr Don Juan fort. »Und wenn sie dies sagen, so gilt es nur für den Menschen, nicht alle Lebewesen überhaupt. Diese drei Arten sind nicht einfach drei Formen von Aufmerksamkeit, sondern es sind drei Stufen der Vollendung. Es sind die erste, die zweite und dritte Aufmerksamkeit, und jede ist ein eigenes Reich, unabhängig und in sich abgeschlossen.«
Die erste Aufmerksamkeit beim Menschen, so erklärte er, sei das kreatürliche Bewußtsein, und dieses entwickele sich — durch Erfahrung - zu einer komplizierten, sehr sensiblen Fähigkeit, sich mit der alltäglichen Welt in ihren unzähligen Aspekten zu befassen. Mit anderen Worten, alles, was man sich vorstellen könne, sei. Bestandteil der ersten Aufmerksamkeit.
»Die erste Aufmerksamkeit ist all das, was wir als Durchschnittsmenschen sind«, fuhr er fort. »Dank dieser absoluten Herrschaft über unser Leben ist die erste Aufmerksamkeit der wertvollste Aktivposten, den wir haben. Vielleicht ist sie sogar unser einziger Aktivposten.
Die neuen Seher kannten den wahren Wert der ersten Aufmerksamkeit und unterzogen sie — durch ihr Sehen - einer genauen Prüfung. Deren Ergebnisse prägten ihre ganze Auffassung und auch die Auffassung aller ihrer Nachfahren, obwohl diese meist gar nicht verstehen, was jene Seher wirklich sahen.«
Er betonte, daß die Schlußfolgerungen, die die neuen Seher aus dieser genauen Prüfung zogen, sehr wenig mit Vernunft oder Rationalität zu tun hätten, denn um die erste Aufmerksamkeit prüfen und erklären zu können, müsse man sie sehen. Und dies könnten eben nur die Seher. Wichtig sei aber, zu untersuchen, was die Seher in der ersten Aufmerksamkeit sähen. Denn dies biete der ersten Aufmerksamkeit die einzige Gelegenheit, ihr eigenes Wirken zu erkennen.
»Im Sinne dessen, was die Seher sehen, ist die erste Aufmerksamkeit die zu ultra-hellem Leuchten entwickelte Glut der Bewußtheit«, fuhr er fort. »Aber es ist eine Glut, die sozusagen an der Oberfläche des Kokon fixiert ist. Es ist eine Glut, die das Bekannte umfaßt.
Die zweite Aufmerksamkeit dagegen ist ein besonderer, komplızierterer Zustand der Glut der Bewußtheit. Sie betrifft das Unbekannte. Sie stellt sich ein, wenn die sonst ungenutzten Emanationen im Kokon des Menschen eingesetzt werden.
Der Grund, weshalb ich die zweite Aufmerksamkeit als einen besonderen Zustand bezeichne, liegt darin, daß man, um diese ungenutzten Emanationen einzusetzen, auf ungewöhnliche und komplizierte Techniken angewiesen ist, die höchste Disziplin und Konzentration verlangen.«
Schon früher einmal, als er mich die Kunst des Träumens lehrte, hatte er mir gesagt, daß die Konzentration, deren man bedarf, sich bewußt zu werden, dass man einen Traum hat, eine Vor form der zweiten Aufmerksamkeit sei. Diese Konzentration sagte er, sei eine Form von Bewusstheit, die nichts mit jener Bewußtheit zu tun habe, wie wir es im alltäglichen Leben Anwenden. Die zweite Aufmerksamkeit, so sagte er, bezeichne man auch als die Bewußtheit der linken Seite: dies sei das weiteste Feld, das man sich nur denken könne - tatsächlich sei es schier grenze, los.
»Nicht um alles in der Welt möchte ich mich dorthin verirren. fuhr er fort. »Es ist ein bodenloser Sumpf, so verworren und phantastisch, daß ernsthafte Seher sich nur unter genau festgeleg, ten Bedingungen dort hineinwagen.
Das größte Problem dabei ist, daß der Eintritt in die zweite Aufmerksamkeit ganz leicht, und ihre Verlockung beinah unwiderstehlich ist.«
Die alten Seher, sagte er, hätten — als wahre Meister der Bewußtheit - ihr Wissen auf ihre eigene Glut der Bewußtheit angewandt und diese ins Unermeßliche anwachsen lassen. Sie hätten das Ziel verfolgt, alle Emanationen ihres Kokon, ein Band um das andere, aufleuchten zu lassen. Dies sei ihnen auch gelungen, aber seltsamerweise habe ihr Erfolg, jeweils ein Band aufstrahlen zu lassen, sie im bodenlosen Sumpf der zweiten Aufmerksamkeit steckenbleiben lassen.
»Die neuen Seher korrigierten diesen Irrtum«, fuhr er fort, »und sie trieben die Beherrschung des Bewußtseins bis ins Extrem und ließen die Glut der Bewußtheit auf einen Schlag über die Grenzen des leuchtenden Kokon hinausgreifen.
Die dritte Aufmerksamkeit ist erreicht, wenn sich die Glut der Bewußtheit in das Feuer von innen verwandelt — eine Glut, die nicht nur jeweils ein Band entzündet, sondern gleichzeitig alle Emanationen des Adlers im Innern des menschlichen Kokon.«
Don Juan äußerte seinen Respekt vor dieser selbstbewußten Tat der neuen Seher — dem Eintritt in die dritte Aufmerksamkeit schon bei Lebzeiten und im Bewußtsein der eigenen Individualität.
Er fand es nicht der Mühe wert, über jene Fälle zu sprechen, da Menschen oder andere Lebewesen zufällig, und ohne sich dessen bewußt zu sein, in das Unbekannte und in das Unerkennbare eintreten. Er bezeichnete dies als die Gabe des Adlers. Auch für die Seher, so betonte er, sei es ein Geschenk, in die dritte Aufmerksamkeit einzutreten, doch für sie habe dies eine andere Bedeutung. Es sei eher so etwas wie eine Belohnung für eine vollbrachte Leistung.
Im Augenblick des Sterbens, fügte er hinzu, würden alle Menschen in das Unerkennbare eintreten, und manche von ihnen sogar die dritte Aufmerksamkeit erreichen — doch immer nur kurze Momente, und nur, um sich als Nahrung für den Adler zu reinigen.
»Es ist die höchste Vollendung des Menschen«, sagte er, »diese Stufe der Aufmerksamikeit zu erreichen, während er noch die Kraft des Lebens hat, und ohne sich in ein körperloses Bewußtsein zu verwandeln, das wie e Lichtflimmern zum Schnabel des Adlers aufschwebt, um verschlugen zu werden.«
Anorganische Wesen
Das Gegenstück zur Erde war das, was sie als die dunklen Regionen bezeichneten. Diese Praktiken waren bei weitem die gefährlichsten. Sie bezogen sich auf Wesen ohne organisches Leben. Lebendige Kreaturen, die auf der Erde hausen und sie zusammen mit allen organischen Lebewesen bevölkern. Eine der wertvollsten Entdeckungen der alten Seher, zumindest für sie selbst, war zweifellos die Erkenntnis, daß das organische Leben nicht die einzige Form von Leben ist, die es auf dieser Erde gibt.«
Ich begriff nicht recht, was er damit meinte. Ich erwartete, daß er seine Aussage verdeutliche.
»Die organischen Lebewesen sind nicht die einzigen Geschöpfe, die Leben haben«, sagte er und hielt abermals inne, um mir Zeit zu lassen, seine Worte zu überdenken.
Ich konterte mit einem langen Vortrag über die Definition von Leben und Lebendigsein. Ich redete von Fortpflanzung, Stoffwechsel und Wachstum, biologischen Prozessen, die den lebendigen Organismus von unbelebten Dingen unterscheiden.
»Du führst das Organische an«, sagte er. »Aber es ist nur ein Einzelfall. Du solltest bei dem, was du sagen willst, nicht nur eine einzige Kategorie anführen.«
»Aber wie könnte es anders sein?«
»Lebendig zu sein, heißt für die Seher, Bewußtsein zu haben«, antwortete er. »Für den Durchschnittsmenschen heißt Bewußtsein zu haben, ein Organismus zu sein. Dies ist der Punkt, in dem die Seher sich von anderen unterscheiden. Bewußtsein zu haben bedeutet für sie, daß die Emanationen, die Bewußtheit bedingen, in einem Behältnis eingeschlossen sind.
Organische Lebewesen haben einen Kokon, der die Emanationen einschließt. Aber es gibt auch andere Geschöpfe, deren Behältnis für den Seher nicht wie ein Kokon aussieht. Und doch tragen sie die Emanationen der Bewußtheit in sich und haben andere Charakteristika des Lebens als Fortpflanzung und Stoffwechsel.« »Welche zum Beispiel, Don Juan?«
»Zum Beispiel emotionale Abhängigkeit, Traurigkeit, Freude, Zorn und so weiter. Das Beste habe ich dabei vergessen: Liebe. Eine Art Liebe, die der Mensch nicht einmal erahnen kann.« »Ist das dein Ernst, Don Juan?« fragte ich besorgt.
»Mein unbelebter Ernst«, antwortete er mit ausdruckslosem Gesicht - und brach in schallendes Lachen aus.
»Richten wir uns nach dem, was die Seher sehen«, fuhr er fort, »so Ist das Leben etwas ganz Ungeheuerliches.«
»Falls diese Wesen Leben haben, wieso geben sie sich dem Menschen nicht zu erkennen« fragte ich.
»Das tun sie doch, dauernd. Und nicht nur den Sehern, sondern auch den Durchschnittsmenschen. Die Schwierigkeit liegt nur darin, daß alle Energie, über die wir verfügen, durch die erste Aufmerksamkeit verzehrt wird. Nicht nur verbraucht das Inventar des Menschen alle Energie, es härtet auch den Kokon, so daß er unelastisch wird. Unter solchen Bedingungen ist eine Verständigung zwischen uns und den Wesen kaum möglich.«
Dann fuhr er fort, mir die Praktiken der alten Seher zu erläutern. Eine weitere ihrer wichtigen Entdeckungen bezog sich, wie el sagte, auf die nächste Kategorie geheimen Wissens: Feuer und Wasser. Sie hätten nämlich entdeckt, daß Flammen eine ganz besondere Eigenschaft haben; sie könnten den Menschen körperlich
transportieren, ähnlich wie das Wasser. Don Juan bezeichnete dies als hervorragende Entdeckung.
Die neuen Seher, so versicherte mir Don Juan, waren ebenfalls überzeugt, daß die Entdeckung der nicht-organischen Lebewesen ein ganz außerordentlicher Sachverhalt sei, aber nicht so, wie die alten Seher dies verstanden. Die Entdeckung, daß sie selbst in Wechselbeziehung zu anderen Lebensformen standen, gab den alten Sehern ein falsches Gefühl der Unverletzbarkeit, das ihren Untergang beschleunigte.
Ich bat ihn, mir die Feuer-und-Wasser-Techniken ausführlicher zu erklären. Er meinte dazu, das Wissen der alten Seher sei so kompliziert wie nutzlos gewesen, und er wolle es mir nur flüchtig skizzieren.
Dann faßte er die Techniken des Oben und Unten zusammen. Das Obere bezog sich auf ein Geheimwissen über Wind, Regen, Wetterleuchten, Wolken, Donner, das Tageslicht und die Sonne. Das Wissen vom Unteren bezog sich auf Nebel, Wasser, unterirdische Quellen, Sümpfe, Blitzstrahlen, Erdbeben, die Nacht, Mondlicht und den Mond.
Das Laute und das Leise waren Kategorien eines Geheimwissens, das sich auf die Manupulation von Geräusch und Stille bezog.
»Die Technik, die ich meine, muss im seichten Wasser eines Baches praktiziert werden«, sagte er. »Es gibt einen, gleich in der Nähe von Genaros Haus.«
»Was muß ich tun?«
»Du mußt einen Spiegel von mittlerer Größe besorgen.«
Diese Forderung überraschte mich. Ich warf ein, die alten Tolteken hätten doch gewiß keine Spiegel gekannt.
»Nein, das nicht«, gab er lächelnd zu. »Das ist die Zutat meines Wohltäters zu dieser Technik. Die alten Seher brauchten nichts anderes als eine spiegelnde Fläche.«
Die Technik bestand, wie er erklärte, im Eintauchen einer glänzenden Fläche in das seichte Wasser eines Baches. Als Fläche eigne sich jeder flache Gegenstand, der einigermaßen Bilder widerspiegeln könne.
»Ich möchte, daß du einen festen Rahmen aus Blech zusammenfügst, für einen Spiegel von mittlerer Grösse«, sagte er. »Er muß wasserdicht sein, darum mußt du ihn mit Pech versiegeln. Du musst ihn selbst machen, mit deinen eigenen Händen. Wenn du ihn fertig hast, bring ihn her, und wir fangen an.«
Spiegeltechnik
»Was wird passieren, Don Juan?«
»Sei nicht so ängstlich. Du selbst hast mich gebeten, dir ein Beispiel für die Praktiken der alten Tolteken zu zeigen. Auch ich habe damals meinen Wohltäter gebeten. Ich glaube, jeder stellt irgend‘ wann diese Bitte. Mein Wohltäter sagte, auch er habe darum gebeten. Sein Wohltäter, der Nagual Elias, zeigte ihm ein solche Beispiel; mein Wohltäter zeigte mir das gleiche Beispiel, und jetzt
werde ich es dir zeigen.
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Der Mittelpunkt des Körpers
Der Mann umklammerte mich mit festerem Griff und versuchte, mich rückwärts auf den Boden zu werfen. Ohne Unruhe in der Stimme forderte mich Don Juan auf, mich zusammenzunehmen und nicht gegen meine Furcht anzukämpfen, sondern mich mit ihr treiben zu lassen. »Habe Angst, ohne verängstigt zu sein«, sagte er. Don Juan kam zu mir herüber, und ohne sich in meinen Kampf einzumischen, flüsterte er mir ins Ohr, ich solle mich ganz auf den Mittelpunkt meines Körpers konzentrieren.
In all den Jahren hatte er immer wieder von mir verlangt, ich solle meinen Körper auf ein Hunderstel Zentimeter ausmessen und seinen genauen Mittelpunkt feststellen, in der Länge wie in der Breite. Dieser Punkt, sagte er, sei bei uns allen das wahre Zentrum der Energie.
Kaum hatte ich meine Aufmerksamkeit auf diesen Mittelpunkt gerichtet, ließ der Mann mich los. Im gleichen Moment wurde mir bewußt, daß das, was ich für ein menschliches Wesen gehalten hatte, in Wirklichkeit nur etwas war, das wie ein Mensch aussah.
Montagepunkt
Die traurige Wahrheit ist, daß der Mensch immer etwas versäumt, was ihn bereichern könnte. Er weiss einfach nichts über seine Möglichkeiten.«
»Wie kann man diese Veränderung von innen her erreichen? fragte ich.
»Diese Erkenntnis, sagen die neuen Seher, ist eine Techhik«, sagte er. »Sie sagen, man muß sich vor allem bewußt werden, daß die Welt, wie wir sie wahrnehmen, eine Folge der Tatsache ist, daß unser Montagepunkt an einer bestimmten Stelle auf unserem Kokon sitzt. Sobald man das begriffen hat, kann man den Montagepunkt — infolge neuer Gepflogenheiten — beinahe willentlich verschieben.« »Ich meinte das, was dem Menschen widerfährt, solange er ein Kind ist«, antwortete er. »Zu einer Zeit, da alle in seiner Umgebung ihn lehren, einen endlosen Dialog zu wiederholen, der sich um seine eigene Person dreht. Dieser Dialog wird verinnerlicht, und nur diese Kraft hält den Montagepunkt an seiner Stelle fixiert.
Die neuen Seher sagen, daß das Kind Hunderte von Lehrern hat, die ihm genau sagen, wo es seinen Montagepunkt lokalisieren soll.«
Die Seher hätten nämlich gesehen, wie er ausführte, daß Kinder anfangs keinen fixierten Montagepunkt haben. Ihre eingeschlossenen Emanationen seien in einem Zustand großer Erregung, und ihr Montagepunkt verschiebe sich im Band des Menschen hin und her, was den Kindern eine große, aber später gründlich vernachlässigte Fähigkeit gebe, sich auf verschiedene Emanationen einzustellen. Während das Kind heranwachse, zwängen die Erwachsenen seiner Umgebung es — durch die beträchtliche Macht, die sie über es haben -, seinen Montagepunkt mittels eines immer komplizierter werdenden inneren Dialogs zu fixieren. Der innere Dialog sei ein Prozeß, der die Position des Montagepunktes dauernd festige, denn diese Position sei eine willkürliche und bedürfe einer solchen Verstärkung.
»Tatsache ist, daß viele Kinder sehen«, fuhr er fort. »Die meisten von ihnen, die sehen, gelten als Sonderlinge, und es wird alles getan, sie umzuerziehen, um die Position ihres Montagepunktes zu festigen.«
»Könnte man aber Kinder nicht ermutigen, ihren Montagepunkt beweglicher zu halten?« fragte ich.
»Nur wenn sie unter den neuen Sehern leben würden«, sagte er. »Sonst würden sie sich, wie die alten Seher, in den Wirrungen der schweigenden Seite des Menschen verstricken. Und glaube mir, das ist schlimmer, als in den Fängen der Rationalität hängenzubleiben.«
Don Juan äußerte seine tiefe Bewunderung für die Fähigkeit des Menschen, Ordnung im Chaos der Emanationen des Adlers zu stiften. Er behauptete, daß wir alle von Hause aus meisterhafte Magier wären und unsere Magie einsetzten, um unseren Montagepunkt unabänderlich fixiert zu halten.
»Die Kraft der allgemeinen Emanationen«, fuhr er fort, »bewirkt, daß unser Montagepunkt gewisse Emanationen auswählt und sie zum Zweck der Ausrichtung und Wahrnehmung bündelt. Dies ist der Befehl des Adlers. Die Bedeutung aber, die wir dem beilegen, was wir wahrnehmen, ist unser eigener Befehl, unsere Gabe der Magie.«
Seitliche Verchiebung des Montagepunkt
„Früher gab ich dir Kraft-Pflanzen, um deinen Montagepunkt in Bewegung zu bringen«, fuhr Don Juan fort. »Kraft-Pflanzen haben eine solche Wirkung; aber Hunger, Müdigkeit und Fieber oder dergleichen können eine ähnliche Wirkung haben. Der Durchschnittsmensch begeht den Fehler, zu glauben, die Folge einer Verschiebung sei eine rein psychische. Das ist sie nicht, wie du selbst bestätigen kannst.«
Mein Montagepunkt, so erklärte er mir, habe in der Vergangenheit schon Hunderte solcher Verschiebungen vollzogen, genau wie er es tags zuvor getan habe, und meist seien die Welten, die er zusammensetze, der Welt des Alltagslebens so nahe gewesen, dass sie praktisch Phantomwelten waren. Solche Visionen, betonte er, würden aber von den neuen Sehern automatisch zurückgewiesen.
»Diese Visionen sind das Produkt des menschlichen Inventars«, fuhr er fort. »Sie haben keinen Wert für den Krieger auf seiner Suche nach absoluter Freiheit, denn sie entstehen durch eine Seitwärts-Verschiebung des Montagepunktes.«
Mit dem Ausdruck Seitwärts-Verschiebung hatte er, das wußte ich, eine Verschiebung des Punktes von der einen Seite zur anderen, quer über die ganze Breite des menschlichen Emanationen Bandes gemeint, und nicht eine Verlagerung in die Tiefe. Ich fragte ihn, ob ich recht hätte.
»Genau, was ich meinte«, sagte er. »An beiden Rändern des menschlichen Emanationen-Bandes gibt es eine seltsame Müllhalde, einen unvorstellbaren Haufen menschlichen Abfalls. Es ist eine sehr trübselige, finstere Halde. Für die alten Seher hatte sie einen großen Wert. Aber nicht für uns.
Es ist allerdings ganz leicht, dort hineinzufallen. Gestern versuchten Genaro und ich, dir ein kurzes Beispiel für diese Seitwärts Verschiebung zu geben. Das war der Grund, warum wir mit deinem Montagepunkt fortgingen. Aber jeder kann diese Halde erreichen, indem er einfach seinen inneren Dialog anhält. Wenn die Verschiebung nur eine minimale ist, werden die Resultate als geistige Trugbilder erklärt. Wenn die Verschiebung größer ist, bezeichnet man die Folgen als Halluzinationen.«
Ich bat ihn, mir das Fortgehen mit dem Montagepunkt zu erklären. Er sagte, sobald der Krieger - durch das Anhalten seines inneren Dialogs - ein inneres Schweigen erreicht habe, könne das bloße Geräusch der Gangart der Kraft, mehr noch als ihr Anblick, seinen Montagepunkt einfangen. Der Rhythmus gedämpfter Schritte fessele augenblicklich die - durch das innere Schweigen gelöste - Kraft der Emanationen im Innern des Kokon.
»Diese Kraft hängt sich sofort an die Ränder des Bandes«, fuhr er fort. »Am rechten Rand finden wir endlose Visionen körperlicher Aktivität, Gewalt, Mord und Wollust. Am linken Rand finden wir Spiritualität, Religion, Gott. Genaro und ich gingen mit deinem Montagepunkt an beide Ränder, um dir einen umfassenden Überblick über diese menschliche Müllhalde zu vermitteln.« Don Juan wiederholte noch einmal, als sei ihm ein neuer Gedanke gekommen, daß diese unglaubliche Wirkung des inneren Schweigens einer der geheimnisvollsten Aspekte am Wissen der neuen Seher sei. Sobald das innere Schweigen erreicht sei, sagte er, begännen die Bindungen, die den Montagepunkt an seinen jeweiligen Platz binden, sich aufzulösen, und der Montagepunkt werde frei und bewege sich.
Diese Bewegung, sagte er, erfolge gewöhnlich nach links, und diese bevorzugte Richtung sei bei den meisten Menschen eine ganz natürliche Reaktion. Es gäbe aber Seher, die diese Bewegung auf Stellen unterhalb der üblichen Position des Punktes richten könnten. Diese Verschiebung bezeichneten die neuen Seher als die »Verschiebung nach unten«.
»Auch zufällige Verschiebungen nach unten können dem Seher passieren«, fuhr er fort. »Der Montagepunkt bleibt aber nicht lange dort unten, und das ist gut so, denn dies ist die Stelle, wo er sich beim Tier befindet. Wenn er nach unten rutscht, so läuft dies unserem Interesse zuwider, auch wenn es ganz leicht zu bewerkstelligen ist.«
Es sei einer der schlimmsten Irrtümer jener alten Seher gewesen, wie Don Juan sagte, daß sie ihren Montagepunkt in die unermessliche Region dort unten gleiten ließen, was sie zu wahren Meistern im Annehmen tierischer Gestalten machte. Sie wählten verschiedene Tiere als Bezugspunkt und nannten diese Tiere ihr Nagual. Sie glaubten, indem sie ihren Montagepunkt an bestimmte Stellen bewegten, könnten sie die Eigenschaften des Tiers ihrer Wahl annehmen, seine Kraft oder seine Klugheit, seine List oder Behendigkeit, seine Wildheit.
Sogar unter den heutigen Sehern, versicherte mir Don Juan, gäbe es viele traurige Beispiele für solche Praktiken. Die relative Leichtigkeit, mit der sich der Montagepunkt des Menschen nach unteren Positionen verschiebe, stelle eine grosse Versuchung für den Seher dar, besonders, wenn er von seiner Veranlagung her dazu neige. Daher sei es die Pflicht eines Nagual, seine Krieger auf die Probe zu stellen.
Mich habe er, wie er sagte, auf die Probe gestellt, indem er meinen Montagepunkt in eine untere Position gleiten ließ, während ich unter dem Einfluß von Kraft-Pflanzen stand. Dann habe er meinen Montagepunkt dirigiert, bis ich das Emanationen-Band der Krähen herausgreifen konnte, was dazu führte, daß ıch mich in eine Krähe verwandelte.
Und wieder stellte ich Don Juan die Frage, die ich ihm schon Dutzende Male vorgelegt hatte. Ich wollte wissen, ob ich mich körperlich in eine Krähe verwandelt oder mich nur wie eine Krähe gefühlt hätte.
Eine Verschiebung des Montagepunktes nach unten, so erklärte er, bewirke immer eine völlige Verwandlung. Wenn der Montagepunkt unter eine kritische Schwelle gleite, so fügte er hinzu, verschwinde die Welt. Sie höre auf, das zu sein, was sie für uns im Reich des Menschen ist.
Er gestand zu, dass meine Verwandlung tatsächlich in jeder Hinsicht erschreckend gewesen sei. Meine Reaktion auf diese Erfahrung habe ihm bewiesen, dass meine Veranlagung nicht in diese Richtung neige. Wäre es anders gewesen, dann hätte ich unter Aufbietung ungeheurer Energie meine Bereitschaft bekämpfen müssen, in jener unteren Region zu verweilen, in der sich manche Seher recht wohl fühlten.
Außerdem, sagte er, unterlaufe jedem Seher ab und zu eine ungewollte Verschiebung nach unten, aber solche Verschiebungen nach unten würden seltener, je weiter sich der Montagepunkt nach links bewege. Jedesmal aber, wenn so etwas passiere, schwinde die Kraft des Sehers, dem diese Erfahrung widerfährt, ganz erheblich. Es sei ein Rückschlag, den aufzuholen viel Zeit und Mühe koste.
»Solche Pannen machen den Seher sehr verdrossen und borniert«, fuhr er fort, »und in manchen Fällen auch extrem rational.«
Montagepunkt
»Beim Menschen«, fuhr Don Juan fort, »ist dieses Abgeschöpfte etwas viel Realeres als das, was andere Geschöpfe wahrnehmen. Dies aber ist unser Fallstrick. Denn es erscheint uns so real, daß wir vergessen, dass wir selbst es geschaffen haben, indem wir unserem Montagepunkt befahlen, dort aufzutauchen, wo er dann auftauchte. Wir vergessen, dass es nur deshalb real erscheint, weil unser Befehl uns vorschreibt, es als real wahrzunehmen. Wir haben die Macht, die oberste Lage der Ausrichtungen abzuschöpfen, aber wir haben nicht die Macht, uns vor unseren eigenen Befehlen zu schützen. Dies muß erst gelernt werden. Unserem Abschöpfen freie Hand zu lassen, wie wir es tun, ist ein Irrtum, für den wir so teuer bezahlen, wie die alten Seher für die ihren.«
»Ich habe dir doch erklärt, dass der Mensch einen Montagepunkt hat«, fuhr er fort, »und dass dieser Punkt die Emanationen zur Wahrnehmung ausrichtet. Wir sprachen auch darüber, dass dieser Punkt sich aus seiner festen Position wegbewegen kann. Nun, und die letzte Wahrheit lautet, daß dieser Punkt, sobald er sich über eine gewisse Grenze hinausbewegt, Welten zusammensetzen kann, die sich völlig von der uns bekannten Welt unterscheiden,«
Immer noch flüsternd, erzählte er mir, dass gewisse geografische Regionen nicht nur geeignet seien, diese gefährliche Bewegung des Montagepunktes zu fördern, sondern auch eine bestimmte Richtung dieser Bewegung vorschrieben. Die Wüste von Sonora, zum Beispiel, helfe dem Punkt, sich aus seiner gewohnten Position nach unten zu bewegen, zum Platz der Tiere.
Pflanzen
Don Juan wechselte unvermittelt das Thema und fing an, von Pflanzen zu sprechen.
»Es wird dir merkwürdig vorkommen«, sagte er, »aber Bäume stehen dem Menschen viel näher als beispielsweise Ameisen. Ich habe dir schon gesagt, daß Bäume und Menschen eine starke Beziehung entwickeln Können, und zwar deshalb, weil sie an den gleichen Emanationen teilhaben.«
»Wie groß sind ihr Kokons?« fragte ich.
»Der Kokon eines hohen Baumes ist nicht viel größer als der Baum selbst. Das interessante daran ist, daß manche winzige Pflanzen einen Kokon haben, der beinah so groß wie der Körper eines Menschen ist, und dreimal so breit. Dies sind die Kraft Pflanzen. Sie haben die meisten Emanationen mit dem Menschen gemein, nicht die Emanationen der Bewußtheit, aber andere allgemeine Emanationen. „Eine weitere Besonderheit der Pflanzen ist, daß ihr Leuchten unterschiedliche Schattierungen aufweist. Für gewöhnlich ist es rosarot, weil ihr Bewußtsein rosa ist. Giftige Pflanzen zeigen einen blassen, gelbrosa Farbton, und Heilpflanzen ein strahlende Lila. Die einzigen weißen sind die Kraft-Pflanzen; etliche sind von trübem Weiß, andere von strahlendhellem Weiß.
Aber der eigentliche Unterschied zwischen Pflanzen und anderen organischen Wesen ist die Position ihres Montagepunktes, Bei Pflanzen befindet sie sich im unteren Teil ihres Kokon, während sie sich bei anderen organischen Wesen im oberen Teil ihres Kokon befindet.«
»Wie sieht es mit den anorganischen Wesen aus?« fragte ich. »Wo liegt bei ihnen der Montagepunkt?«
»Bei manchen liegt er im unteren Teil ihres Behälters«, sagte er, »Diese sind dem Menschen gänzlich fremd, aber den Pflanzen verwandt. Bei anderen liegt er irgendwo im oberen Teil ihres Behälters. Diese stehen dem Menschen und anderen organischen Lebewesen nahe.«
Die alten Seher seien überzeugt gewesen, fügte er hinzu, daß die Pflanzen eine sehr intensive Kommunikation mit den organischen Wesen pflegen. Je tiefer der Montagepunkt, so glaubten sie, desto‚ leichter sei es für die Pflanzen, die Wahrnehmungsbarriere zu durchbrechen; bei sehr großen Bäumen oder sehr kleinen Pflanzen liege der Montagepunkt extrem weit unten auf dem Kokon. Deswegen zielten viele Zaubertechniken der alten Seher darauf ab, die Bewußtheit von Bäumen und kleinen Pflanzen dienstbar zu machen und sie als Führer zu nutzen beim Hinabsteigen in die -- wie sie sagten — tiefsten Ebenen der dunklen Regionen.
»Du wirst natürlich verstehen«, fuhr Don Juan fort, »daß sie, als sie in die Tiefen hinabzusteigen meinten, in Wirklichkeit ihren Montagepunkt anstießen, damit er andere wahrnehmbare Welten aus jenen sieben großen Bändern zusammensetze.
Sie forderten das Äußerste von ihrem Bewußtsein und setzten Welten aus fünf großen Bändern zusammen, die dem Seher nur zugänglich sind, wenn er sich einer gefährlichen Verwandlung unterzieht.«
»Aber gelang es den alten Sehern, diese Welten zusammenzusetzen?« fragte ich.
»Ja, das wohl«, sagte er. »Irregeleitet, wie sie waren, hielten sie es der Mühe wert, alle Schranken der Wahrnehmung zu durchbrechen, auch wenn sie zu diesem Zweck Bäume werden mussten.«
Montagepunkt
Am nächsten Tag, wieder in den frühen Abendstunden, kam Don Juan in das Zimmer, wo ich mich mit Genaro unterhielt. Er nahm mich am Arm und führte mich durch das Haus in den hinteren Patio. Es war schon ziemlich dunkel. Wir spazierten durch die Galerie, die den Patio einfaßte.
Während wir dahinspazierten, meinte Don Juan, er müsse mich noch einmal ermahnen, daß es sehr leicht sei, sich in Wirrnis und Wahnsinn zu verlieren. Der Seher, sagte er, habe es mit mächtigen Feinden zu tun, die sein Streben vereiteln, seine Ziele verwischen und ihn selbst schwächen könnten; Feinde, hervorgerufen durch den Pfad des Kriegers selbst, im Zusammenwirken mit Trägheit, Bequemlichkeit und Eigendünkel, die dennoch allgegenwärtige Bestandteile der alltäglichen Welt seien.
Die durch Trägheit, Bequemlichkeit und Eigendünkel bedingten Irrtümer der alten Seher, sagte er, seien so gewaltig und so gefährlich gewesen, daß die neuen Seher keine andere Wahl gehabt hätten, als ihre eigene Tradition abzulehnen und zu verurteilen.
Was die neuen Seher daher am nötigsten brauchten, fuhr Don Juan fort, seien geeignete Praktiken gewesen, um ihren Montagepunkt in Bewegung zu bringen. Da sie solche nicht vorfanden, beschränkten sie ihr Interesse darauf, die Glut der Bewußtheit zu sehen, und erarbeiteten in der Folge drei systematische Techniken, die zur Grundlage ihrer Praxis wurden.
Mit diesen drei Systemen, so sagte Don Juan, hätten die neuen Seher etwas ganz Außerordentliches und Schwieriges vollbracht. Es sei ihnen gelungen, den Montagepunkt planmäßig aus seiner üblichen Position zu verschieben. Zwar sei dies auch schon den alten Sehern gelungen, wie er einräumte, aber nur mit Hilfe sehr eigenwilliger und ausgefallener Methoden. Und was die neuen Seher in der Glut der Bewußtheit sahen, veranlaßte sie dann, wie Don Juan erzählte, jene bereits von den alten Sehern entdeckten Wahrheiten über das Bewusstsein zu einem neuen Systemzusammenzufassen.
Das Pirschen
Don Juan schwieg und sah mich unverwandt an. Es entstand ein unbehagliches Schweigen. Dann fing er an, über das Pirschen zu sprechen. Es habe sich, sagte er, aus bescheidenen, zufälligen Anfängen entwickelt. Die neuen Seher hätten nämlich beobachtet, daß, wenn ein Krieger sich ununterbrochen auf eine für ihn ungewohnte Weise verhält, die sonst ungenutzten Emanationen in seinem Kokon zu glühen anfangen. Und dabei verschiebe sich sein Montagepunkt sanft, harmonisch und kaum fühlbar. Durch diese Beobachtung angeregt, hätten die neuen Seher angefangen, ihr Verhalten systematisch zu kontrollieren. Diese Übung nannten sie die Kunst des Pirschens. Don Juan bemerkte, daß dieser Name, soviel man gegen ihn einwenden möge, dennoch angemessen sei, weil das Pirschen dem Menschen ein spezifisches Verhalten abverlange, ein Verhalten, das man als verstohlen bezeichnen könne.
Gewappnet mit dieser Technik, hätten die neuen Seher das Bekannte einer nüchternen und fruchtbaren Prüfung unterzogen. Durch stetige Übung versetzten sie ihren Montagepunkt in dauernde Bewegung.
„Das Pirschen ist eine der beiden höchsten Errungenschaften der neuen Seher«, sagte er. »Die neuen Seher bestimmten, dass ein moderner Nagual in dieser Kunst unterwiesen werden soll, sobald sein Montagepunkt sich ganz tief in die linke Seite verschoben hat. Der Grund für diese Bestimmung ist, dass der Nagual die Prinzipien des Pirschens lernen soll, ohne Behinderung durch das menschliche Inventar. Immerhin ist der Nagual Anführer einer Gruppe, und um sie zu führen, muß er rasch handeln, ohne erst lange nachzudenken. Die anderen Krieger können das Pirschen in normalem Bewußtseinszustand lernen, auch wenn es ratsam ist, daß sie es im Zustand gesteigerter Bewußtheit tun — weniger weil gesteigerte Bewußtheit so wertvoll wäre, sondern weil sie das Pirschen mit einem Geheimnis umgibt, das ihm eigentlich gar nicht zukommt; das Pirschen ist lediglich Verhalten gegenüber Menschen.« Jetzt müßte ich auch verstehen, sagte er, daß die Verschiebung des Montagepunktes der Grund war, weshalb die neuen Seher dem Umgang mit kleinen Tyrannen so großen Wert beilegten. Die kleinen Tyrannen zwängen den Seher, die Prinzipien des Pirschens anzuwenden, und hülfen ihm somit, seinen Montagepunkt ‚in Bewegung zu bringen. Ich fragte ihn, ob die alten Seher bereits etwas von den Prinzipien des Pirschens gewußt hätten. »Das Pirschen ist ausschließlich eine Sache der neuen Seher«, sagte er lächelnd. »Sie sind auch die einzigen Seher, die es mit Menschen zu tun haben. Die alten Seher, in ihrem Gefühl der Macht, wußten nicht einmal von der Existenz anderer Menschen. Bis diese anderen kamen und ihnen den Schädel einschlugen. Aber das weißt du ja selber alles.«
Ihr Bemühen wurde reich belohnt, als sie« entdeckten, dass die Energie der Ausrichtung diese Kraft sei. Am Anfang sahen sie, wie die Glut der Bewußtheit im gleichen Maß an Umfang und Intensität zunimmt, wie die Emanationen im Innern des Kokon sich an den allgemeinen Emanationen ausrichten. Sie nutzten diese Beobachtung -- wie sie es schon beim Pirschen taten — als Sprungbrett und entwickelten in der Folge eine Reihe komplizierter Techniken für den Umgang mit dieser Ausrichtung der Emanationen. Anfangs bezeichneten sie diese Techniken als Meisterschaft der Ausrichtung. Dann erkannten sie, daß es dabei um viel mehr ging, als nur um Ausrichtung: nämlich um Energie, die aus der Ausrichtung der Emanationen hervorgeht. Diese Energie bezeichneten sie als Wille.
Der Wille wurde zur zweiten Grundlage ihrer Praxis. Die neuen Seher verstanden ihn als einen blinden, unpersönlichen, unaufhörlichen Energieausbruch, der uns so handeln lässt, wie wir es tun. Der Wille sei verantwortlich für unsere Wahrnehmung der alltäglichen Welt, und indirekt, durch die Kraft dieser Wahrnehmung, sei er auch verantwortlich für das Verharren des Montagepunktes in seiner gewohnten Position.
Die neuen Seher erforschten nun, wie Don Juan ausführte, auf welche Weise unsere Wahrnehmung der alltäglichen Welt stattfindet, und sahen dabei die Folgen des Willens. Sie sahen, daß die Ausrichtung sich unaufhörlich erneuert, um unseren Wahrnehmungen Kontinuität zu verleihen. Um die Ausrichtung stets mit der Frische zu erneuern, die notwendig ist, um eine lebendige Welt entstehen zu lassen, wird der Energie-Ausbruch, der aus diesen Ausrichtungen selbst hervorgeht, automatisch umgeleitet, um gewisse, ausgewählte Ausrichtungen zu verstärken.
Diese Beobachtung diente den neuen Sehern abermals als Sprungbrett, das ihnen half, die dritte Basis jenes Systems zu finden. Sie nannten sie Absicht, und sie beschrieben es als das zielstrebige Führen des Willens, als Energie der Ausrichtung. »Silvio Manuel, Genaro und Vicente erhielten vom Nagual Julian einen Stoß, damit sie diese drei Aspekte des Wissens der Seher lernten«, fuhr er fort. »Genaro ist der Meister im Umgang mit der Bewußtheit, Vicente ist der Meister des Pirschens, und Silvio Manuel ist der Meister der Absicht.
Um eine geeignetere Methode zum Verschieben des Montagepunktes zu finden, schien es den neuen Sehern unerläßlich, die Emanationen des Adlers zu sehen. Und während sie sich bemühten, die Emanationen zu sehen, stellte sich ihnen ein schwerwiegendes Problem. Sie entdeckten nämlich, daß es unmöglich sei, diese zu sehen, ohne dabei ein tödliches Risiko einzugehen, und doch mußten sie sie sehen. Und da begannen sie die von den alten Sehern entwickelte Technik des Träumens anzuwenden, um sich gegen die tödliche Gewalt der Emanationen abzuschirmen. Dabei erkannten sie, dass das Träumen selbst das wirksamste Mittel sei, den Montagepunkt in Bewegung zu bringen.
»Einer der striktesten Befehle der neuen Seher«, fuhr Don Juan fort, »besagte, daß der Krieger das Träumen lernen muß, während er sich in seinem normalen Bewußtseinszustand befindet, Getreu diesem Befehl, lehrte ich dich das Träumen seit dem ersten Tag unserer Bekanntschaft.«
»Warum befahlen die neuen Seher, daß das Träumen bei normalem Bewußtseinszustand gelehrt werden soll?« fragte ich.
»Weil das Träumen so gefährlich ist und die Träumer so verletzlich sind«, sagte er. »Es ist gefährlich, weil es unvorstellbare Kraft enthält. Es macht die Träumer verletzlich, weil es sie der unbegreiflichen Kraft der Ausrichtung auf Gedeih und Verderb ausliefert.
Die neuen Seher erkannten, dass wir in unserem normalen Bewußtseinszustand unzählige Abwehrmechanismen haben, um uns gegen die Gewalt der ungenutzten Emanationen zu schützen, die beim Träumen plötzlich ausgerichtet werden.«
Das Träumen, erklärte Don Juan, habe, ähnlich wie das Pirschen, mit einer einfachen Beobachtung angefangen. Die alten Seher beobachteten nämlich, dass der Montagepunkt sich beim Träumen von selbst, auf ganz natürliche Weise, etwas nach links verschiebt — ja, dass dieser Punkt sich im Schlaf entspannt, wobei alle Arten von ungenutzten Emanationen zu glühen beginnen.
Die alten Seher waren natürlich begeistert von dieser Beobachtung, so erzählte Don Juan, und arbeiteten fortan mit dieser natürlichen Verschiebung, bis sie sie kontrollieren konnten. Diese Kontrolle bezeichneten sie als Träumen, oder als Kunst des Umgangs mit dem Traumkörper.
Schier unmöglich sei es, meinte Don Juan, die unermessliche Fülle des Wissens zu beschreiben, das die alten Seher über das Träumen angesammelt hätten. Die neuen Seher aber konnten nur wenig davon gebrauchen. Als nun die Zeit des Wiederaufbaus kam, übernahmen die neuen Seher nur die wesentlichen Grundlagen ‚des Träumens, die ihnen helfen konnten, die Emanationen des Adlers zu sehen, und ihren Montagepunkt zu bewegen.
Don Juan erzählte, dass die Seher, die alten wie die neuen, das Sehen als eine Kontrolle jener natürlichen Verschiebung aufgefasst hätten, die der Montagepunkt im Schlaf vollziehen. Diese Verschiebung zu kontrollieren, betonte er, bedeute keineswegs, sie zu steuern, vielmehr ginge es darum, den Montagepunkt in der Position festzuhalten, an die er sich im Schlaf ganz natürlich begebe - ein sehr kompliziertes Manöver, das von den alten Sehern viel Mühe und Konzentration verlangte. Der Träumer müsse, erklärte Don Juan, ein sehr delikates Gleichgewicht einhalten, denn weder dürfe er in die Träume eingreifen noch könne er sie durch bewußte Anstrengung kommandieren - und trotzdem müsse die Verschiebung des Montagepunktes dem Befehl des Träumers gehorchen: ein Widerspruch, den man nicht, so Don Juan, rational auflösen, sondern nur in der Praxis lösen könne.
Durch das Beobachten von Träumern im Schlaf fanden die alten Seher auch die Lösung, den Träumen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Sie hatten gesehen, daß der Montagepunkt des Träumers bei manchen Träumen erheblich tiefer in die linke Seite hineingleite als bei anderen. Diese Beobachtung stellte sie vor die Frage, ob der Inhalt des Traums den Montagepunkt in Bewegung bringt, oder ob die Bewegung des Montagepunktes ihrerseits den Inhalt des Traums hervorbringt, indem sie ungenutzte Emanationen aktiviert.
Bald erkannten sie, daß es die Verschiebung des Montagepunktes in die linke Seite sei, die die Träume hervorbringt. Je weiter die Bewegung, desto lebhafter und phantastischer der Traum. Zwangsläufig versuchten sie nun, ihre Träume zu dirigieren, mit dem Ziel, ihren Montagepunkt tiefer in die linke Seite hineinzubewegen. Bei diesem Unterfangen entdeckten sie, daß der Punkt, sobald der Traum bewußt oder halbbewußt manipuliert wird, sofort an seinen gewohnten Ort zurückkehrt. Nachdem sie aber diesen Punkt in Bewegung bringen wollten, gelangten sie unvermeidlich zu dem Schluß, daß ein Eingreifen in den Traum einem Eingreifen in die natürliche Verschiebung des Montagepunktes gleichkäme.
Von dieser Einsicht ausgehend, erklärte Don Juan, entwickelten die alten Seher dann ihr erstaunliches Wissen zu diesem Thema -ein Wissen von ungeheuren Konsequenzen für das, was die neuen Seher mit ihrem Träumen zu erreichen versuchten, das ihnen jedoch in seiner ursprünglichen Form wenig nützen konnte.
Träumen
Wahrscheinlich, so meinte Don Juan, hätte ich das Träumen bisher als eine Kontrolle der Träume aufgefaßt. Und doch habe er mir mit all den Übungen, die er mir aufgab, wie etwa das Auffinden meiner Hände im Traum, nicht etwa beibringen wollen, meine Träume zu dirigieren. Diese Übungen seien nur dazu bestimmt gewesen, meinen Montagepunkt an der Stelle festzuhalten, zu der er sich in meinem Schlaf hinbewege. Hier aber müsse der Träumer ein delikates Gleichgewicht wahren. Das einzige, was er zu steuern vermöchte, sagte er, sei die Fixierung seines Montagepunktes. Er befinde sich in der Lage eines Fischers, ausgestattet mit einer Angelschnur, die sich nach eigenem Willen auswirft; ihm bliebe nichts anderes übrig. als die Leine an der Stelle zu vertäuen, wo sie ins Wasser falle.
»Die Stelle, an die sich der Montagepunkt im Traum bewegt, nennt man die Traumposition«, fuhr er fort. »Die alten Seher wußten so meisterhaft ihre Traumposition beizubehalten, daß sie sogar aufwachen konnten, wahrend der Montagepunkt dort verankert war.
Die alten Seher nannten diesen Zustand den Traumkörper, denn sie wußten diesen in so hohem Maß zu kontrollieren, daß sie sich jedesmal, wenn sie bei einer neuen Traumposition erwachten, zeitweilig einen neuen Körper schufen.
Du mußt dir aber im klaren sein, daß das Träumen einen gefährlichen Nachteil hat. Es gehört zur Welt der alten Seher. Es ist von ihrer Stimmung durchdrungen. Ich habe versucht, dich vorsichtig durch diese Erfahrung zu geleiten, aber man kann nie sicher sein.«
»Wovor willst du mich warnen, Don Juan?«
»Ich warne dich vor den Fallstricken des Träumens, die wahrhaft erstaunlich sind«, antwortete er. »Beim Träumen ist es tatsächlich unmöglich, die Bewegung des Montagepunktes zu steuern; das einzige, was über diese Verschiebung entscheidet, ist die innere Stärke oder Schwäche des Träumers. Und genau hier liegt der erste Fallstrick.«
Am Anfang, so erklärte er, hätten sich die neuen Seher nur zögernd des Träumens bedient. Sie glaubten, daß das Träumen der Krieger, statt ihn zu stärken, nur schwach, bedrückt und launenhaft mache - ganz wie es die alten Seher waren. Um die gefährlichen Folgen des Träumens auszugleichen - denn es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich seiner zu bedienen -, entwickelten die neuen Seher ein vielseitiges und kompliziertes System von Verhaltensweisen, genannt der Weg der Krieger oder Pfad der Krieger.
Durch dieses System konnten die Seher sich absichern und die innere Stärke finden, die sie brauchten, um die Verschiebung des Montagepunktes im Traum zu steuern. Die Stärke, von der Don Juan sprach, beruhte nicht auf Überzeugung allein, wie er sagte. Niemand hätte stärkere Überzeugungen vertreten können als die alten Seher, und doch seien sie schwach bis ins Mark gewesen. Innere Stärke bedeute Gleichmut, beinah Gleichgültigkeit, ein Gefühl der Leichtigkeit, aber vor allem bedeute es eine tiefe, natürliche Neigung zum Forschen und Verstehen. Diesen Charakterzug bezeichneten die neuen Seher als Nüchternheit.
»Die neuen Seher waren der Überzeugung«, fuhr er fort, »daß ein Leben der Makellosigkeit an sich, und unvermeidlich, zu solcher Nüchternheit führt und daß diese wiederum die Bewegung des Montagepunktes bewirkt.
Wie ich dir sagte, glaubten die neuen Seher, daß der Montagepunkt von innen her bewegt werden kann. Sie gingen noch einen Schritt weiter und behaupteten, dass makellose Krieger niemanden brauchen, der sie führt, sondern daß sie selbst, indem sie ihre Energie sparen, all das tun können, was die Seher tun. Alles, was sie brauchen, ist eine kleine Chance, und das Wissen um jene, von den Sehern enthüllten Möglichkeiten.«
Damit, so sagte ich ihm, wären wir wieder am Ausgangspunkt, an dem wir in meinem normalen Bewußtseinszustand gestanden hätten. Denn noch immer sei ich überzeugt, daß Makellosigkeit, oder das Sparen von Energie, so unbestimmte Begriffe wären, daß jeder sie nach Belieben interpretieren könne.
Ich wollte weitersprechen und meinen Standpunkt begründen, aber da überfiel mich ein sonderbares Gefühl. Ich hatte tatsächlich die körperliche Empfindung, als sauste ich durch etwas hindurch. Und dann konnte ich selbst meinen Standpunkt widerlegen. Ich wußte ohne jeden Zweifel, daß Don Juan recht hatte: Alles, was man braucht, ist Makellosigkeit und Energie, und diese beginnt mit einer einzigen Tat, die wohlerwogen, präzise und beharrlich sein muß. Wird diese Tat lange genug wiederholt, »Laß uns nun über den Traumkörper sprechen«, fuhr er fort. »Die alten Seher konzentrierten alle ihre Anstrengungen auf die Erfor. schung und Anwendung des Traumkörpers. Und es gelang ihnen, diesen wie einen materiellen Körper einzusetzen, was soviel heißt, als daß sie sich selbst in immer unheimlicheren Formen neu erschufen.«
Unter den neuen Sehern sei allgemein bekannt, sagte Don Juan, daß ganze Scharen von alten Sehern niemals wiederkehrten, nachdem sie in einer Traumposition ihrer Wahl aufgewacht waren. Wahrscheinlich, so sagte er, seien sie in jenen unvorstellbaren Welten gestorben, oder vielleicht lebten sie heute noch - wer weiß, in welch entstellten Formen.
Er machte eine Pause, sah mich an und fing herzlich an zu lachen.
Der Traumkörper
Dennoch behilten sie den Namen Traumkörper bei, um damit ein Gefühl, eine Energieaufwallung zu bezeichnen, die durch die Bewegung des Montagepunktes an jeden Ort dieser Welt transportiert werden kann -- oder an jeden Ort in den sieben Welten, die dem Menschen zugänglich sind.«
Dann schilderte mir Don Juan die Technik, durch die der Traumkörper zu erlangen sei, Diese beginne, wie er sagte, mit irgendeiner ersten Tat, die einfach durch die Tatsache, daß sie durchgehalten werde, eine unbeugsame Absicht erzeuge. Unbeugsame Absicht führte zu innerem Schweigen, und inneres Schweigen führte zu innerer Stärke, die notwendig sei, um den Montagepunkt im Traum an die geeigneten Positionen wandern zu lassen.
Diesen Abschnitt bezeichnete Don Juan als das Fundament. Nachdem das Fundament abgeschlossen sei, folge die Entwicklung der Kontrolle; sie bestünde in einem systematischen Beibehalten der Traumposition, und zwar durch hartnäckiges Festhalten an der Traum-Vision. Stetige Übung bewirke eine große Geschicklichkeit im Beibehalten neuer Traumpositionen auch in neuen Träumen, allerdings weniger, weil man durch Übung eine bewußte Kontrolle über den Traum gewönne, sondern weil jedesmal, wenn solche Kontrolle geübt werde, die innere Stärke sich festige. Die gefestigte innere Stärke wiederum lasse den Montagepunkt zunehmend in solche Traumpositionen gleiten, die geeignet seien, die Nüchternheit zu fördern. Anders gesagt, die Träume selbst würden mit der Zeit immer steuerbarer, sogar geordneter.
»Die Entwicklung der Träumer ist eine indirekte«, fuhr er fort. »Dies ist der Grund, warum die neuen Seher glauben, daß wir allein, und ohne Hilfe, träumen können. Da das Träumen mit Hilfe einer natürlichen, eingebauten Verschiebung des Montagepunktes geschieht, sollten wir niemanden brauchen, der uns hilft.
Was wir aber nötig brauchen, das ist Nüchternheit, und niemand, außer uns selbst, kann sie uns geben oder uns helfen, sie zu gewinnen. Ohne Nüchternheit wäre die Verschiebung des Montage Punktes eine chaotische, wie ja auch unsere gewöhnlichen Träume chaotisch sind.
Die richtige Methode, zum Traumkörper zu gelangen, ist also nichts anderes als Makellosigkeit in unserem täglichen Leben.«
Wenn erst einmal Nüchternheit gelernt sei und die Traumpositionen immer stärker würden, so erklärte Don Juan, wäre der nächste Schritt, in jeder beliebigen Traumposition aufzuwachen. So einfach dies erscheine, sei es doch, wie er meinte, ein sehr kompliziertes Manöver — so kompliziert, dass es nicht nur Nüchternheit, sondern auch alle anderen Attribute der Kriegerschaft voraussetze, besonders die Absicht.
Ich fragte ihn, wie die Absicht dem Seher helfe, in einer bestimmten Traumposition zu erwachen. Und er antwortete, daß es der Absicht, als der höchstentwickelten Kontrolle der AusrichtungsKraft, vorbehalten bleibe, mit Hilfe der Nüchternheit des Träumers die Ausrichtung all jener Emanationen aufrechtzuerhalten, die durch die Bewegung des Montagepunktes beleuchtet würden.
Es gebe allerdings, sagte Don Juan, noch einen weiteren gefährlichen Fallstrick des Träumens: nämlich die Stärke des Traumkörpers selbst. Zum Beispiel falle es dem Traumkörper sehr leicht, die Emanationen des Adlers längere Zeit hindurch ununterbrochen anzustarren, doch ebenso leicht könne der Traumkörper am Ende völlig von ihnen aufgezehrt werden. Seher, die die Emanationen des Adlers ohne ihren Traumkörper anstarrten, seien daran gestorben, und jene, die sie mit ihrem Traumkörper anstarrten, seien am Feuer von innen verbrannt. Die neuen Seher hätten das Problem dadurch gelöst, daß sie in Gruppen zu sehen pflegten. Während ein Seher die Emanationen anstarrte, standen die anderen bereit, um das Sehen abzubrechen.
»Wie machten es die neuen Seher beim Sehen in Gruppen?« fragte ich,
»Sie träumten zusammen«, erwiderte er. »Wie du weißt, ist es einer Gruppe von Sehern möglich, jeweils die bei sich gleichen ungenutzten Emanationen zu aktivieren. Und auch in diesem Fall ist nicht bekannt, nach welcher Methode dies geschieht. Es geschieht einfach. Es gibt keine Technik, die man befolgen
könnte.« Beim Zusammen-Träumen, fügte er an, übernehme irgend etwas in uns die Führung, und plötzlich teilten wir mit anderen Träumern dieselbe Vision. Dabei zwinge uns unser schieres Mensch sein, die Glut unserer Bewußtheit automatisch auf die gleichen Emanationen zu richten, die auch bei anderen Menschen aktiviert seien. Wir korrigierten die Position unseres Montagepunktes entsprechend, damit sie mit den Positionen der Punkte bei den Leuten unserer Umgebung übereinstimmten. Dies könnten wir auf der rechten Seite tun, bei unseren alltäglichen Wahrnehmungen, aber wir könnten es auch auf der linken tun, wenn wir zusammen träumen.
Der Kokon (Technik)
Nach kurzer Pause fügte er hinzu, daß man, um den Kokon des Menschen zu sehen, die Leute von hinten anstarren müsse, während sie sich von einem entfernten. Es sei nutzlos, Menschen von Angesicht zu Angesicht anzustarren, weil die Vorderseite des eiförmigen Kokon des Menschen einen Schutzschild habe, den die Seher als Vorderplatte bezeichneten. Dieser sei ein beinahundurchdringlicher, unnachgiebiger Schild, der uns unser Leben lang vor den Angriffen einer besonderen, von den Emanationen selbst ausgesandten Kraft schütze. Ich solle auch nicht überrascht sein, sagte er, wenn mein Körper sich starr anfühlen würde, wie gefroren; ich würde mich fühlen, sagte er, wie jemand, der in einem Zimmer steht und durchs Fenster auf die Straße blickt. Das Wesentliche dabei sei die Geschwindigkeit, denn die Leute würden sehr schnell an einem Seh-Fenster vorbeigehen. Dann empfahl er mir, meine Muskeln zu entspannen und meinen inneren Dialog abzuschalten und meinen Montagepunkt unter dem Bann des inneren Schweigens fortgleiten zu lassen. Er forderte mich auf, mir einen behutsamen, aber festen Schlag zu versetzen, an der rechten Seite, zwischen Hüftknochen und Brustkorb. Dies tat ich dreimal, und dann schlief ich fest. Es war ein sehr eigenartiger Schlafzustand, Mein Körper schlief, und doch war mir alles, was stattfand, völlig bewußt. Ich hörte Don Juan zu mir sprechen, und ich konnte jedem seiner Sätze folgen, als ob ich wach wäre, und doch konnte ich meinen Körper nicht bewegen. Don Juan sagte, es werde gleich ein Mann an meinem Seh-Fenster vorübergehen, und ich solle versuchen, ihn zu sehen. Ich bemühte mich vergeblich, meinen Kopf zu wenden, und dann tauchte eine eiförmige Figur auf. Sie strahlte. Ich war ergriffen von diesem Anblick, und noch bevor ich mich von meiner Überraschung erholen konnte, war sie verschwunden. Sie schwebte davon, leicht auf und ab hüpfend.
All dies war so plötzlich und schnell geschehen, dass ich ungeduldig und ärgerlich wurde. Ich merkte, daß ich aufzuwachen begann. Wieder sprach Don Juan auf mich ein und empfahl mir, mich zu entspannen. Er sagte, ich hätte keine Zeit und auch nicht das Recht, ungeduldig zu werden. Plötzlich tauchte wieder ein leuchtendes Wesen auf und ging vorbei. Es schien aus einem weißen fluoreszierenden Faser-Plüsch zu bestehen.
Don Juan flüsterte mir ins Ohr, daß meine Augen, wenn ich dies wollte, alles verlangsamen könnten, auf das sie sich einstellten. Dann machte er mich wieder auf einen sich nähernden Menschen aufmerksam. Gleich darauf erkannte ich, daß da zwei Stimmen waren. Die eine, die ich eben gehört hatte, war dieselbe, die mich ermahnt hatte, geduldig zu bleiben. Das war Don Juans Stimme. Die andere, die mir befahl, meine Augen einzusetzen, um die Bewegungen zu verlangsamen, war die Stimme des Sehens.
An diesem Nachmittag sah ich zehn leuchtende Wesen in Zeitlupenbewegung. Die Stimme des Sehens leitete mich, und ich konnte an ihnen alles beobachten, was Don Juan mir über die Glut der Bewußtheit erzählt hatte. Da war das vertikale Band mit einem stärkeren, bernsteinfarbenen Leuchten auf der rechten Seite dieser eiförmigen leuchtenden Wesen, und es machte etwa ein Zehntel vom Gesamtvolumen des Kokon aus. Dies sei das menschliche Band der Bewußtheit, sagte die Stimme. Die Stimme machte mich auf einen Fleck im Band des Menschen aufmerksam, einen Fleck mit intensivem Leuchten. Er befand sich hoch oben an den länglichen Figuren, beinah am Scheitelpunkt des Kokon, auf seiner Oberfläche. Die Stimme sagte, dies sei der Montagepunkt.
Wenn ich ein solches leuchtendes Wesen im Profil sah, also mit seitlichem Blick auf seinen Körper, dann wirkte seine eiförmige Gestalt wie ein riesengroßes, asymmetrisches und schrägstehendes Yoyo, oder wie ein fast runder, auf der Seite liegender Topf mit Deckel. Jener Teil, der wie ein Deckel aussah, war die Vorderplatte; sie nahm etwa ein Fünftel der Gesamtstärke des Kokon ein.
Ich hätte gerne weitergemacht und diese Wesen gesehen, aber Don Juan sagte, ich solle nun die Leute von Angesicht zu AngeSicht anstarren und meinen Blick aushalten, bis ich die Schranke durchbrechen und die Emanationen sehen würde.
Rollende Kraft
»Mann, was bist du überspannt«, sagte er. »Die rollende Kraft ist doch nicht so schlimm. Sie ist sogar freundlich. Die neuen Seher empfahlen, wir sollten uns ihr öffnen. Auch die alten Seher öffneten sich ihr, aber aus Gründen und für Zwecke, die durch ihren Wahn und Eigendünkel motiviert waren.
Die neuen Seher dagegen wollen sich mit ihr anfreunden. Sie machen sich mit dieser Kraft vertraut, indem sie ihr ohne Eigendünkel entgegentreten. Und das hat erstaunliche Folgen.«
Um sich der rollenden Kraft zu Öffnen, sagte er, brauche man nichts anderes zu tun, als seinen Montagepunkt verschieben. Sähe man diese Kraft in wohlüberlegter Absicht, dann bestünde kaum Gefahr. Eine sehr gefährliche Situation sei dagegen die unfreiwillige Verschiebung des Montagepunktes, bedingt etwa durch körperliche Schwäche, seelische Erschöpfung, oder auch nur eine kleine emotionale oder physische Krise, etwa wenn man verängstigt oder betrunken sei.
»Wenn sich der Montagepunkt unfreiwillig verschiebt, dann bricht die rollende Kraft den Kokon auf«, fuhr er fort. »Ich erzählte dir oft von einer Lücke, die der Mensch unter seinem Nabel hat. Sie befindet sich nicht wirklich unter dem Nabel selbst, sondern auf dem Kokon, in Höhe des Nabels. Die Lücke ist eher so etwas wie eine Beule, eine natürliche Schramme im sonst glatten Kokon. Das ist die Stelle, wo uns der Schwenker unaufhörlich trifft und wo der Kokon aufbricht.«
Falls es sich nur um eine kleine Verschiebung des Montagepunktes handle, erklärte er, sei die Bruchstelle nur sehr schmal, und der Kokon repariere sich bald wieder von selbst. Bei dem Betreffenden zeigten sich dann, wie bei jedem hin und wieder, Farbflekken und verzerrte Formen, die auch mit geschlossenen Augen wahrnehmbar seien.
Falls es sich aber um eine größere Verschiebung handle, sei auch die Bruchstelle breiter, und der Kokon brauche längere Zeit, um sich selbst zu reparieren — wie etwa im Fall des Kriegers, der absichtlich Kraft-Pflanzen benutze, um eine Verschiebung herbeizuführen, oder auch bei Leuten, die Drogen nähmen und dabei unwissentlich dasselbe täten. In solchen Fällen fühlten sich die Betreffenden taub und kalt; sie hätten Sprach und Denkschwierigkeiten; es sei, als wären sie von innen erfroren.
Falls aber der Montagepunkt sich infolge eines Traumas oder einer tödlichen Krankheit sehr drastisch verschiebe, bewirke die rollende Kraft einen Bruch über die ganze Länge des Kokon. Der Kokon platze auf und falte sich zusammen, und der Betreffende müsse sterben.
»Kann auch eine freiwillige Verschiebung eine solche Lücke herbeiführen?« fragte ich.
»Mitunter«, erwiderte er. »Wir sind tatsächlich sehr zerbrechlich. Nachdem der Schwenker uns immer wieder trifft, kommt der Tod durch diese Lücke. Der Tod ist die rollende Kraft. Wenn er eine Schwäche in der Lücke eines leuchtenden Wesens findet, bricht er sie automatisch auf und läßt den Kokon platzen.«
»Hat jedes Lebewesen so eine Lücke?« fragte ich.
»Gewiß«, antwortete er. »Hätte es keine, dann würde es sterben. Die Lücken unterscheiden sich aber nach Größe und Gestaltung. Beim Menschen ist die Lücke eine schüsselartige Vertiefung von der Größe einer Faust, ein sehr zerbrechliches, verletzliches Gebilde. Die Lücken anderer organischer Wesen sind ganz ähnlich wie jene des Menschen; bei manchen sind sie stärker als bei uns, bei manchen sind sie schwächer. Ganz anders aber ist die Lücke bei anorganischen Wesen beschaffen. Sie ist eher wie ein langer Faden, ein Haarriß in der leuchtenden Form. Folglich sind anorganische Wesen unendlich widerstandsfähiger als wir.
Die Langlebigkeit dieser Wesen hat etwas unheimlich Anziehendes, und die alten Seher konnten dieser Anziehung nicht widerstehen, und sie ergaben sich ihr.«
Diese Kraft, sagte er, könne zwei, einander entgegengesetzte Folgen zeitigen. Die alten Seher hätten sich von der Kraft gefangennehmen lassen; die neuen Seher aber würden für ihre Anstrengung mit dem Geschenk der Freiheit belohnt.
Die Form des Menschen
Wenn sich der Montagepunkt aus seiner gewohnten Position abweiche und eine gewisse Tiefe erreiche, erklärte er, durchbreche er eine Barriere, die seine Fähigkeit, Emanationen auszurichten, für eine Weile aufhebe. Dies erlebten wir als einen Augenblick der Wahrnehmungs-Leere. Die alten Seher, sagte er, hätten diesen Augenblick als die Nebelwand bezeichnet, weil immer dann, wenn eine Ausrichtung von Emanationen ins Stocken gerate, eine Nebelwand sichtbar werde.
Es gebe drei Möglichkeiten, sagte er, mit dieser Erscheinung umzugehen. Man könne sie abstrakt als Wahrnehmungsbarriere auffassen; man könne sie als ein Hindurchschreiten des ganzen Körpers durch eine straff gespannte Papierwand empfinden, oder man könne sie sehen - eben als eine Nebelwand.
Don Juan hatte mich, im Laufe meiner Lehrzeit bei ihm, unzählige Male angeleitet, diese Wahrnehmungsbarriere zu sehen. Zunächst hatte ich die Vorstellung einer Nebelwand attraktiv gefunden. Don Juan erklärte mir, dass auch die alten Seher es vorgezogen hätten, das Phänomen in der Weise zu sehen. Es sei sehr traulich und bequem, sagte er, sie als Nebelwand zu sehen, aber es liege auch eine große Gefahr darin, etwas an sich Unbegreifliches als etwas so Düsteres, Unheildrohendes wie eine Nebelwand aufzufassen. Daher empfahl er mir, unbegreifliche Dinge lieber unbegreiflich sein zu lassen, statt sie es in das Inventar der ersten Aufmerksamkeit aufzunehmen.
Nachdem ich kurzlebigen Trost darin gefunden hatte, die Nebelwand zu sehen, mußte ich Don Juan recht geben, daß es besser sei, diese Übergangsphase als unbegreifliche Abstraktion aufzufassen. Inzwischen aber war es mir nicht mehr möglich, die Fixierung meines Bewußtseins aufzulösen. Jedesmal, wenn ich in die Lage geriet, die Wahrnehmungsbarriere zu durchbrechen, sah ich die Nebelwand.
Damals sagte mir Don Juan, dass mann durch Uebung im Montieren anderer Welten seinem Montagepunkt die Möglichkeit geben könne, Erfahrung im Sich-Verschieben zu sammeln. Ich hatte mich aber stets gefragt, woher ich den ersten Anstoß bekommen sollte, um meinen Montagepunkt aus seiner gewohnten Position zu lösen. Bisher, wenn ich ihn deshalb befragte, hatte er mir stets zur Antwort gegeben, dass— nachdem Ausrichtung die allesbewirkende Kraft sei nur Absicht den Montagepunkt bewegen könne.
Nun fragte ich ihn abermals.
»Du bist jetzt in der Lage, diese Frage selbst zu beantworten«, erwiderte er, »Die Meisterschaft des Bewußtseins ist es, die dem Montagepunkt einen Schub versetzt. Immerhin hat’s mit uns Menschen nicht viel auf sich: wir sind im wesentlichen ein Montagepunkt, der an eine bestimmte Position fixiert ist. Unser Feind, und zugleich unser Freund, ist der innere Dialog, unser inneres Inventar. Sei ein Krieger. Schalte deinen inneren Dialog ab. Mache dein Inventar und wirf es aus dem Fenster. Die neuen Seher legen sorgfältige Inventare an und lachen am Ende darüber. Ohne das Inventar wird der Montagepunkt frei.«
Don Juan erinnerte mich daran, daß er viel über den den stabilsten Aspekt unseres menschlichen Inventars gesprochen habe: unsere Vorstellung Gottes. Dieser Aspekt, sagte er, wirke wie ein starker Leim, der den Montagepunkt an seine ursprüngliche Position binde. Falls ich aber eine andere wahrhafte Welt, aus einem anderen großen Emanationen-Band montieren wolle, müsse ich einen unvermeidlichen Schritt tun und meinen Montagepunkt von all diesen Dingen freimachen.
Dieser Schritt bedeutet, die Form des Menschen zu sehen«, sagte er. »Das wirst du heute tun müssen, und zwar ohne Hilfe.« »Was ist die Form des Menschen?« fragte ich.
»Ich habe dir viele Male geholfen, sie zu sehen«, erwiderte er. »Du weißt, wovon ich spreche.«
Ich verzichtete auf meinen Einwand, ich wisse gar nicht, wovon er spräche. Wenn er sagte, ich hätte die Form des Menschen gesehen, dann mußte ich sie gesehen haben, auch wenn ich nicht die blasseste Ahnung hatte, wie sie aussehen sollte.
Er wußte, was mir durch den Kopf ging. Er zeigte mir ein wissendes Lächeln und schüttelte bedächtig den Kopf.
»Die Form des Menschen ist ein riesiges Bündel von Emanationen im grossen Band des organischen Lebens«, sagte er. »Man nennt sie die Form des Menschen, weil das Bündel nur im Kokon «des Menschen sichtbar wird. Die Form des Menschen ist jener Teil der Emanationen des Adlers, den die Seher direkt sehen, ohne sich in Gefahr zu bringen, « Es entstand eine lange Pause, bevor er weitersprach.
»Die Wahrnehmungsbarriere zu durchbrechen, das ist die letzte Aufgabe der Meisterschaft des Bewußtseins«, sagte er. »Um den Montagepunkt in diese Position zu bewegen, mußt du genügend Energie ansammeln. Eine Wieder-Entdeckungsreise machen. Dich erinnern, was du getan hast!«
Ich versuchte vergeblich, mich zu erinnern, was die Form des Menschen sei. Ich empfand eine unerträgliche Frustration, die alsbald in echte Wut umschlug. Ich war böse auf mich selbst, auf Don Juan, auf jeden.
Don Juan blieb ungerührt durch meinen Zorn. Ärger, stellte er sachlich fest, sei eine ganz natürliche Reaktion auf das Widerstreben des Montagepunktes, sich auf Befehl zu bewegen.
»Es wird noch lange dauern, bevor du das Prinzip anwenden kannst, daß dein Befehl der Befehl des Adlers ist«, sagte er.» Dies aber ist der Kern der Meisterschaft des Bewußtseins. Inzwischen gib dir wenigstens den Befehl, nicht verdriesslich zu werden, nicht einmal in Momenten schlimmsten Zweifels. Es wird eine langsame Entwicklung sein, bis dieser Befehl vernommen und befolgt wird, als wäre es der Befehl des Adlers.«
Er sagte, es liege eine unermeßliche Region der Bewußtheit zwischen der üblichen Position des Montagepunktes und jener Position, wo es keine Zweifel mehr gebe, und genau dies sei die Stelle, wo die Barriere der Wahrnehmung auftrete. In dieser unermeßlichen Region könnten die Krieger jeder nur vorstellbaren Fehlhandlung zum Opfer fallen. Er ermahnte mich, auf der Hut zu sein und nicht das Vertrauen zu verlieren, denn es sei unvermeidlich, daß mich irgendwann ein lähmendes Gefühl der Niederlage befallen werde.
»Die neuen Seher empfehlen etwas ganz Einfaches für den Fall, daß Ungeduld oder Verzweiflung, Zorn oder Traurigkeit einen anwandeln«, fuhr er fort. »Sie empfehlen, der Krieger soll die Augen rollen. Egal in welche Richtung. Ich ziehe es vor, die Augen im Uhrzeigersinn zu rollen.
Diese Augenbewegung bewirkt eine sofortige Verschiebung des Montagepunktes. Durch diese Bewegung findest du Linderung, Sie ist ein Ersatz für die wahre Bemeisterung der Absicht.«
Ich beklagte mich, daß ihm wohl nicht mehr viel Zeit bliebe, mir mehr über die Absicht zu erzählen.
»Eines Tages wird dir alles wieder einfallen«, versicherte er mir. »Eines wird das andere auslösen. Ein Schlüsselwort, und alles wird aus dir rauspurzeln, als wäre die Tür eines vollgestopften Kleiderschranks aufgegangen.«
Dann nahm er die Diskussion der menschlichen Form wieder auf, Es sei ein wichtiger Schritt, sagte er, sie allein, ohne die Hilfe eines anderen zu sehen, denn wir alle hätten bestimmte Vorstellungen, die überwunden werden müßten, bevor wir frei werden könnten. Der Seher, der ins Unbekannte aufbreche, um das Unbekannte zu sehen, müsse im Stande der Makellosigkeit sein. Im Stande der Makellosigkeit zu sein, sagte er augenzwinkernd, bedeute, sich von rationalen Vermutungen und rationalen Befürchtungen freigemacht zu haben. Meine rationalen Vermutungen und meine rationalen Befürchtungen, meinte er, hinderten mich momentan, jene Emanationen wieder-auszurichten, die mir helfen würden, die Form des Menschen zu sehen. Er empfahl mir, mich zu entspannen und meine Augen zu rollen, um meinen Montagepunkt sich verschieben zu lassen. Mehrmals wiederholte er, wie wichtig es sei, mich daran zu erinnern, die Form des Menschen gesehen zu haben, bevor ich sie erneut sehen könne. Und da seine Zeit knapp werde, sei meine übliche Langsamkeit diesmal fehl am Platze.
Ich rollte meine Augen, wie er mir empfohlen hatte. Fast im selben Moment vergaß ich mein Unbehagen, und dann setzte blitzartig meine Erinnerung ein, und ich erinnerte mich, daß ich die Form des Menschen gesehen hatte. Es war vor Jahren gewesen, bei einer Gelegenheit, die mir bemerkenswert erschien, weil Don Juan damals die - vom Standpunkt meiner katholischen Erziehung - lästerlichsten Äußerungen tat, die ich jemals gehört hatte.
Angefangen hatte das alles als beiläufige Unterhaltung, während wir durch die Randdünen der Wüste von Sonora wanderten. Er erläuterte mir die Konsequenzen dessen, was er mit seinen Lehren bei mir zu erreichen suche. Wir hatten Rast gemacht und uns auf ein paar grosse Steinbrocken niedergelassen. Er fuhr fort, mir die Technik seiner Lehren zu erläutern, und dies ermutigte mich zu meinem wohl hundertsten Versuch, ihm zu berichten, wie mir dabei zumute sei. Es war offensichtlich, dass er nichts mehr davon hören wollte. Er liess mich auf eine andere Bewusstseinsebene überwechseln und sagte mir, wenn ich die Form des Menschen sehen würde, könnte ich alles verstehen, was er machte. Und damit könnte ich uns beiden Jahre der Plackerei ersparen. Dann erklärte er mir ausführlich, was die Form des Menschen sei. Er sprach darüber nicht im Sinne der Emanationen des Adlers, sondern im Sinne einer energetischen Struktur, die in der Lage sei, einem amorphen Klumpen biologischer Materie die Eigenschaften des Menschlichen aufzuprägen. Zumindest verstand ich es so, zumal er mir die Form des Menschen in mechanischen Gleichnissen schilderte. Sie sei ein gigantischer Prägestock, sagte er, der in endloser Folge menschliche Wesen ausstanze, als kämen sie von einem Fabrikfließband. Er veranschaulichte mir den Vorgang, indem er die Handflächen kräftig zusammenschlug, als stieße der Prägestock jedesmal,:wenn die zwei Hälften zusammenklappten, ein menschliches Wesen aus.
Er sagte auch, daß jede Gattung ihre eigene Form habe und daß jedes auf diese Weise geformte Individuum einer jeden Gattung die seiner Art entsprechenden Merkmale aufweise.
Und dann gab er mir eine sehr beunruhigende Schilderung dieser Form des Menschen. Die alten Seher, sagte er, hätten mit den abendländischen Mystikern eines gemein, nämlich daß sie die Form des Menschen sahen, ohne jedoch zu verstehen, was sie sei. Die Mystiker aller Jahrhunderte hätten uns ergreifende Berichte von ihren Erfahrungen hinterlassen. Diese Berichte, so schön sie wären, litten alle an dem einen großen, hoffnungslosen Mangel, daß darin die Form des Menschen als allmächtiger, allwissender Schöpfer aufgefaßt würde. Das gleiche gelte auch für die Deutung der alten Seher, die die Form des Menschen als freundlichen Geist, als Beschützer der Menschen bezeichneten.
Einzig die neuen Seher, sagte er, seien nüchtern genug, die Form des Menschen als das zu sehen und zu verstehen, was sie sei. Und sie hätten erkannt, daß die Form des Menschen kein Schöpfer sei, sondern das Präge-Muster aller nur denk oder vorstellbaren menschlichen Eigenschaften. Die Form, sagte er, sei unser Gott, Mein Glaube, erwiderte er, beruhe wohl auf religiösen Vorstellungen und sei mithin eine Überzeugung aus zweiter Hand, die belanglos sei. Mein Glaube an die Existenz Gottes, sagte er, beruhe auf Hörensagen, und nicht auf dem Akt des Sehens. Er beteuerte, daß ich, selbst wenn ich sehen könnte, den gleichen Irrtum begehen würde, wie ihn die Mystiker begingen. Denn jeder, der die Form des Menschen sähe, unterstelle automatisch, sie sei Gott. Das mystische Erleben bezeichnete er als zufälliges Sehen, als Treffer aufs Geratewohl, und ohne weitere Bedeutung, denn es sei das Ergebnis einer zufälligen Bewegung des Montagepunktes. Die neuen Seher seien die einzigen, behauptete er, die in diesen Dingen ein gerechtes Urteil abgeben könnten, denn sie hätten das zufällige Sehen ausgeschlossen und könnten die Form des Menschen sehen, sooft sie wollten.
Und daher hätten sie gesehen, fuhr er fort, dass das, was wir Gott nennen, ein Prototypus des Menschlichen sei, und ohne alle
Macht. Denn die Form des Menschen könne uns unter keinen Umständen helfen, indem sie etwa zu unseren Gunsten eingreife. Sie könne weder unsere Missetaten bestrafen, noch uns irgendwie belohnen. Wir seien lediglich das Produkt ihrer Prägung; wir seien ihr Abdruck. Die Form des Menschen sei genau das, was der Name aussage: ein Muster, eine Form, ein Abdruck, der ein bestimmtes Bündel faserförmiger Elemente, genannt Mensch, zusammenfasse.
Und dann erzählte mir Don Juan, er habe bei mir, am Anfang meiner Lehrzeit, mit Kraft-Pflanzen gearbeitet - und zwar gemäss einer Empfehlung der neuen Seher. Diese hätten aus Erfahrung und durch ihr Sehen gewusst, dass Kraft-Pflanzen den Montagepunkt aus seiner normalen Position losrütteln könnten. Die KraftPflanzen hätten auf den Montagepunkt im Prinzip die gleiche Wirkung wie die Träume: die Träume setzten ihn in Bewegung, aber die Kraft-Pflanzen bewirkten eine weitere, und im Massstab grössere Verschiebung. Der Lehrer nutze also die desorientierende Wirkung einer solchen Verschiebung, um beim Schüler die Vorstellung zu bestärken, dass die Wahrnehmung dieser Welt nie eine ‚endgültige sei.
Er stand auf und meinte, es’sei Zeit für uns, einen kleinen Spaziergang in die Stadt zu machen, wo ich die Form des Menschen in der Menschenmenge sehen sollte. Schweigend gingen wir zur Plaza. Aber noch bevor wir dort ankamen, überflutete mich eine unwiderstehliche Welle der Energie, und ich rannte durch die Strassen, bis an den Rand der Stadt. Ich gelangte an eine Brücke, und genau dort sah ich, als hätte sie mich erwartet, die Form des Menschen als ein strahlendes, warmes, bernsteinfarbenes Licht. Ich fiel auf die Knie, aber nicht aus Frömmigkeit, sondern als physische Reaktion auf meine Ergriffenheit. Der Anblick der Form des Menschen war erstaunlicher denn je. Ohne alle Überheblichkeit glaubte ich, eine gewaltige Veränderung durchgemacht zu haben - seit damals, als ich sie zum erstenmal sah. All die Dinge, die ich gesehen und gelernt hatte, vermittelten mir nur eine tiefere Dankbarkeit für das Wunder, das da vor meinen Augen geschah.
Zuerst überlagerte die Form des Menschen das Bild der Brücke. Dann paßte ich meinen Blick an und sah die Form des Menschen, wie sie sich aufwärts und abwärts ins Unendliche erstreckte; die Brücke war nur ein dürftiges Gehäuse, eine winzige, flüchtig über das Ewige geworfene Skizze. Und dies galt auch für die winzigen Figürchen der Menschen, die sich um mich bewegten und mich mit unverhohlener Neugier betrachteten. Aber ich war für sie unerreichbar, auch wenn ich in diesem Moment so verletzlich war wie nur je. Die Form des Menschen hatte keine Macht, mich zu beschützen oder zu verschonen, und doch liebte ich sie mit einer Leidenschaft, die kein Ende kannte.
Jetzt glaubte ich auch etwas zu verstehen, was Don Juan mir immer wieder gesagt hatte, nämlich daß wahre Liebe keine Investition sein kann. Mit Freuden hätte ich mich dem Dienst an der Form des Menschen gewidmet, nicht um dessenthalben, was sie mir geben konnte, denn sie hatte nichts zu geben, sondern um der reinen Liebe willen, die ich für sie empfand.
Ich hatte das Gefühl, als ob etwas mich fortrisd, und bevor ich aus ihrem Bannkreis gezogen wurde, rief ich der Form des Menschen ein Gelübde zu — aber eine mächtige Kraft fegte mich beiseite, bevor ich aussprechen konnte, was ich hatte geloben wollen. Plötzlich kniete ich neben der Brücke, während eine Gruppe von Bauern sich lachend um mich scharte.
Don Juan stand neben mir. Er half mir auf, und wir gingen nach Hause.
»Es gibt zwei Arten, die Form des Menschen zu sehen«, begann Don Juan, als wir uns hingesetzt hatten. »Du kannst sie als einen Menschen sehen, oder du kannst sie als ein Licht sehen. Das ist abhängig von der Verschiebung des Montagepunktes. Geht die Verschiebung zur Seite, dann ist die Form des Menschen eine menschliche Gestalt. Geht die Verschiebung zur Mitte des menschlichen Bandes, dann ist die Form ein Licht. Das einzig Wertvolle, was du heute geschafft hast, ist, daß dein Montagepunkt sich in die Mitte verschob.«
Die Position, wo man die Form des Menschen sehe, so sagte er, liege in unmittelbarer Nähe jener Positionen, wo der Traumkörper und die Wahrnehmungsbarriere aufträten. Dies sei auch der Grund, warum die neuen Seher empfahlen, die Form des Menschen zu sehen und zu verstehen.
»Bist du sicher, daß du verstehst, was die Form des Menschen wirklich ist?« fragte er mich lächelnd.
»Ich versichere dir, Don Juan, ich bin mir völlig bewußt, was die Form des Menschen ist«, sagte ich.
»Als ich zur Brücke kam, hörte ich, wie du der Form des Menschen irgendwelche Albernheiten zuriefst«, sagte er mit boshaftem Lächeln.
Darauf erzählte ich ihm, daß ich mich zwar gefühlt hätte wie ein nichtswürdiger Knecht, der einen nichtswürdigen Herrn anbetet, und doch habe mich eine reine Zuneigung getrieben, ihr ewige Liebe zu geloben.
Don Juan fand dies alles sehr spassig und lachte, bis ihm die Luft wegblieb.
»Das Gelübde eines nichtswürdigen Knechts an einen nichtswürdigen Herrn ist wertlos«, sagte er und rang lachend nach Atem. Ich sah keinen Anlaß, mich zu rechtfertigen. Meine Liebe zur Form des Menschen war frei, ohne jeden Gedanken an einen Lohn. Es machte mir nichts aus, daß mein Gelübde wertlos sein sollte.
Lustige Gesten
An diesem Abend hatte Don Juan gesagt, Genaro werde meinem Montagepunkt helfen, eine sehr tiefe Verschiebung zu machen, und ich solle ihn imitieren - alles nachmachen, was er tat. Genaro reckte den Hintern heraus und stieß dann sein Becken mit großer Wucht nach vorne. Ich fand, es war eine obszöne Gebärde. Dies wiederholte er immer wieder und hopste umher wie im Tanz. Don Juan stieß mich an und drängte mich, Genaro nachzuahmen, und ich tat es. So tollten wir beide herum, immer die gleiche groteske Bewegung ausführend. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, als führte mein Körper die Bewegung ganz von selber aus, ohne Zutun dessen, was mir mein wirkliches Ich zu sein Schien. Diese Spaltung zwischen meinem Körper und meinem wirklichen Ich wurde noch ausgeprägter, und dann sah ich irgend wann eine lächerliche Szene, bei der zwei Männer mit geilen Gebärden umeinander hüpften. Ich beobachtete fasziniert und erkannte, dass ich selbst einer der Männer war. Im gleichen Moment, als es mir bewußt wurde, spürte ich, wie mich etwas fortriss, und nun stiess ich wieder im Einklang mit Genaro mein Becken vor und zurück. Beinah im gleichen Moment bemerkte ich, dass noch ein anderer Mann neben Don Juan stand und uns beobachtete. Der Wind umfächelte ihn. Ich sah, wie sein Haar flatterte. Er war nackt und schien verlegen. Der Wind sammelte sich um ihn, wie um ihn zu bergen, oder vielleicht umgekehrt, wie um ihn fortzuwehen.
Ich hatte noch nicht gemerkt, dass ich selbst der andere Mann war. Als ich es dann merkte, war es der Schock meines Lebens. Eine unergründliche physische Macht riss mich entzwei, als ob ich aus Fasern bestünde, und wieder schaute ich einem Mann zu, der mit Genaro herumtollte und mich anglotzte, während ich zu ihm hinschaute. Und gleichzeitig sah ich einen nackten Mann, der ich war und mich anglotzte, während ich mit Genaro geile Gebärden aufführte. Der Schock war so gross, dass ich aus dem Rhythmus der Bewegung fiel und strauchelte.
Dann wußte ich nur noch, dass Don Juan mir auf die Beine half. Genaro und das andere Ich, der Nackte, waren verschwunden.
Montagepunkt
Als Genaro dich hier, von dieser Bank, über den Platz zu sich zog, da bahnte er deinem Montagepunkt einen Weg vom Normalbewußtsein hinüber zu jener Position, wo der Traum-Körper sichtbar wird. Dein Traum-Körper flog tatsächlich in einem einzigen Augenblick eine unglaubliche Entfernung. Dies aber ist nicht das Entscheidende. Das Geheimnis liegt in der Traum-Position. Wenn sie stark genug ist, um dich anzuziehen, kannst du bis an die Enden dieser Welt reisen — oder darüber hinaus, wie die alten Seher es taten. Sie verschwanden aus dieser Welt, weil sie in einer Traum-Position jenseits der Grenzen des Bekannten erwachten. Deine Traum-Position an jenem Tag lag in dieser Welt, aber in ziemlicher Entfernung von Oaxaca.«
»Wie geschieht eine solche Reise?« fragte ich. »Wie das geschieht, kann niemand wissen«, sagte er. »Starke Emotionen, unbeugsame Absicht oder starkes Interesse können als Führer dienen. Dann wird der Montagepunkt kräftig in der Traum-Position fixiert -- lange genug, um alle Emanationen im Innern des Kokon dort hinüberzuziehen.«
Und dann erzählte Don Juan, er habe mir in den Jahren unserer Verbindung unzählige Male geholfen zu sehen, ob in normalem Bewußtseinszustand oder in Zuständen gesteigerter Bewußtheit; ich hätte dabei unzählige Dinge gesehen, die ich erst jetzt in richtigerem Zusammenhang begreifen könne. Dieser Zusammenhang sei kein logischer oder rationaler, aber gleichwohl werde er, auf seltsame Weise, all das klären, was Don Juan mit mir getan habe und auch all das, was ich in den Jahren mit ihm gesehen hätte. Jetzt aber, sagte er, bedürfe ich noch einer letzten Klärung: der zusammenhängenden, aber irrationalen Erkenntnis, dass alles in dieser Welt, wie wir sie wahrzunehmen gelernt hätten, unauflöslich an jene Position gebunden sei, wo der Montagepunkt seinen Sitz habe. Werde der Montagepunkt aus dieser Position verdrängt, dann höre die Welt auf, das zu sein, was sie für uns sei.
Eine Verschiebung des Montagepunktes über die Mittellinie des menschlichen Kokon hinaus, stellte Don Juan fest, lasse die ganze Welt, wie wir sie kennen, im Handumdrehn aus unserem Blick verschwinden, ganz als wäre sie ausgelöscht — denn die Stabilität, die Materialität, die unserer wahrnehmbaren Welt anzuhaften scheine, sei nur die Kraft der Ausrichtung. Aufgrund der Fixierung des Montagepunktes an einen bestimmten Platz würden routinemässig bestimmte Emanationen ausgerichtet. Mehr habe es nicht auf sich mit unserer Welt.
»Nicht die Stabilität der Welt ist ein Trugbild« fuhr er fort. »Das Trugbild ist die Fixierung des Montagepunktes an eine bestimmte Stelle. Wenn der Seher seinen Montagepunkt verschiebt, hat er nicht eine Illusion vor sich, sondern eine andere Welt. Diese neue Welt ist so wirklich wie die unsere, die wir täglich vor Augen haben. Doch die neue Fixierung des Montagepunktes, die diese neue Welt hervorbringt, ist ebenso Trugbild wie die alte Fixierung.
Sieh mal dich, zum Beispiel. Du bist jetzt in einem Zustand gesteigerter Bewußtheit. Alles, was du in solch einem Zustand vermagst, ist keine Illusion; es ist so wirklich wie die Welt, der du morgen in deinem alltäglichen Leben begegnen wirst, und doch wird morgen die Welt, die du jetzt vor dir hast, nicht existieren. Sie existiert nur, wenn dein Montagepunkt sich genau an die Stelle bewegt, an der du jetzt bist.«
Die eine Aufgabe, sagte er, die dem Krieger noch bleibe, nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen habe, sei die Integration. Im Lauf ihrer Ausbildung müßten Krieger, besonders Nagual Männer, ihren Montagepunkt an so viele Stellen wie möglich verschieben. Ich zum Beispiel, sagte er, hätte den meinen in zahllose Positionen verschoben, die ich eines Tages zu einem zusammenhängenden Ganzen integrieren müsse.
»Würdest du zum Beispiel deinen Montagepunkt in eine bestimmte Position verschieben, dann könntest du dich erinnern, wer diese Dame ist«, fuhr er mit seltsamem Lächeln fort. »Dein Montagepunkt ist Hunderte von Malen an dieser Stelle gewesen. Es sollte dir ein leichtes sein, ihn zu integrieren.«
Als ob mein Gedächtnis auf seinen Vorschlag reagierte, stellten sich mir vage Erinnerungen ein, in der Art von Gefühlen. Da war ein Gefühl grenzenloser Zuneigung, das mich anzuziehen schien; ein angenehm weiches Aroma erfüllte die Luft, als sei jemand von hinten an mich herangetreten und hülle mich in diesen Duft ein. Ich drehte mich sogar um. Und dann erinnerte ich mich. Sie war Carol, die Nagual-Frau. Ich war erst am Tag zuvor mit ihr zusammengewesen. Wie hatte ich sie vergessen können?
Ich erlebte einen unbeschreiblichen Augenblick, in dem mir war, als durchströmten mich alle Gefühle meines seelischen Repertoires. War es möglich, so fragte ich mich, dass ich in ihrem Haus in Tucson, Arizona, aufgewacht war — zweitausend Meilen entfernt? Und sind alle diese Momente gesteigerter Bewußtheit so isoliert, dass man sich nachher nicht mehr daran erinnern kann?
Don Juan kam an meine Seite und legte mir den Arm um die Schultern. Er sagte, er wisse genau, wie mir zumute sei. Sein Wohltäter habe ihn eine ähnliche Erfahrung durchmachen lassen. Und er wolle nun versuchen, mit mir dasselbe zu tun, was sein Wohltäter mit ihm getan hatte: mit Worten besänftigen. Er selbst sei damals dankbar gewesen für das Bemühen seines Wohltäters, aber er bezweifle jetzt, wie damals, ob es möglich sei, jemanden zu besänftigen, der im Begriff stünde, die Reise des Traum-Körpers zu erkennen.
Jetzt gab es keine Zweifel mehr in meinem Fühlen und Denken. Irgend etwas in mir war die Distanz zwischen den Orten Oaxaca in Mexiko und Tucson in Arizona gereist. Ich empfand eine sonderbare Erleichterung, als sei ich endlich von einer Schuld geläutert.
Epilog
Wenn der alte Krieger schon einen inneren Dialog führt, so pflegten die alten Seher zu sagen, dann sollte es wenigstens der richtige Dialog sein. Für die alten Seher hiess das, ein Dialog über Zauberei und über die Steigerung der Selbst-Reflexion. Für die neuen Seher ist es kein Dialog, sondern die unvoreingenommene Manipulation der Absicht durch nüchterne Befehle.«
Immer wieder ermahnte er uns, dass die Manipulation der Absicht mit einem selbsterteilten Befehl beginne; dann werde der Befehl wiederholt, bis er zum Befehl des Adlers werde, und dann erst, in dem Augenblick, da der Krieger das innere Schweigen erreiche, verschiebe sich der Montagepunkt,
Der Tatsache, dass ein solches Manöver möglich sei, behauptete er, hätten die alten wie die neuen Seher überragende Bedeutung beigemessen - allerdings aus diametral gegensätzlichen Gründen. Dieses Wissen habe es den alten Sehern ermöglicht, ihren Montagepunkt zu unvorstellbaren Traumpositionen im unermässlichen Unbekannten zu verschieben.
