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Der zweite Ring der Kraft

Quelle: Der zweite Ring der Kraft

 

S. 102

Krankheit einer Freundin

»Sicher, du Kannst sie gesund machen und sie dazu bringen, sich aus dieser Todesfalle zu befreien«, sagte er.
»Wie?« fragte ich ihn.
»Es ist ganz einfach«, sagte er. »Du brauchst sie nur daran zu erinnern, daß sie eine unheilbare Krankheit hat. Da sie eine Todeskandidatin ist, hat sie Kraft. Sie hat nichts mehr zu verlieren. Sie hat bereits alles verloren. Wenn man nichts zu verlieren hat, wird man mutig. Schwach sind wir nur, solange wir uns noch an etwas klammern können.«
»Aber genügt es, sie einfach daran zu erinnern?«
»Nein, aber das wird ihr den Schwung geben, den sie braucht. Dann muß sie die Krankheit mit der linken Hand wegschieben. Sie muß den Arm nach vorn schieben und dabei die Hand krümmen, als packte sie einen Türknauf. Sie muß schieben und schieben und dabei sagen: raus, raus, raus! Sag ihr, sie soll, da sie ja sonst nichts zu tun hat, jede Sekunde des ihr bleibenden Lebens nutzen, um diese Bewegung auszuführen. Ich versichert dir, sie wird aufstehen und fortgehen, wenn sie es will.«
»Das klingt so einfach«, sagte ich.
Don Juan lachte vor sich hin.
»Es erscheint einfach«, sagte er, »aber das ist es nicht. Um dass zu tun, braucht deine Freundin einen makellosen Geist.«

S. 109

Abschiedsgeste

Don Juan hatte mich vor Jahren diese Abschiedsgeste gelehrt. Er hatte betont, es sei eine ungemein starke Geste und ein Krieger müsse sie sparsam einsetzen. Ich hatte nur ein paarmal Gelegenheit gehabt, sie selbst auszuführen.

Die Abschiedsgeste, die la Gorda jetzt ausführte, wich etwas von jener ab, die Don Juan mich gelehrt hatte. Er sagte, die Hände müßten wie zum Gebet gefaltet werden, entweder sachte oder sehr schnell und fest, sogar mit einem leichten Händeklatschen. Das Händefalten, wie immer ausgeführt, dient dem Zweck, das Gefühl einzusperren, das der Krieger nicht zurücklassen will. Sobald die Hände das Gefühl ergreifen und festhalten, werden sie kraftvoll vor die Brust, in Höhe des Herzens gehoben. Dort verwandelt das Gefühl sich in einen Dolch, und der Krieger sticht sich den Dolch in die Brust, wobei er ihn gleichsam mit beiden Händen hält.

Don Juan hatte mir gesagt, daß ein Krieger nur dann auf diese Weise Lebewohl sagt, wenn er Grund hat anzunehmen, daß er vielleicht nicht wiederkehren wird.

La Gordas Lebewohl schlug mich in seinen Bann.

»Sagst du Lebewohl?« fragte ich neugierig.

»Ja«, sagte sie trocken.

»Führst du die Hände denn nicht vor die Brust?« fragte ich. »Das tun nur Männer. Die Frauen haben einen Uterus. Dort speichern sie ihre Gefühle.«

»Soll man denn nicht nur dann auf diese Weise Lebewohl sagen, wenn man glaubt, daß man nicht zurückkehren wird?« fragte ich. »Gut möglich, daß ich nicht zurückkehre", antwortete sie. "

 

 

 

S. 110

Wie steigt man in ein Auto 

Lidia und Josefina tauchten in der Tür auf und starrten mich an. Ich stieg rasch ins Auto. La Gorda stieg nach mir ein, und dabei fiel mir auf, dass sie sich mit dem Kopf voran ins Auto schob, ähnlich wie man in eine Röhre kriecht. Das hatte auch Don Juan stets getan. Einmal, nachdem ich es unzählige Male bei ihm gesehen hatte, meinte ich scherzhaft, es sei doch praktischer, so einzusteigen, wie ich es tat. Ich glaubte nämlich, dass seine seltsame Art einzusteigen vielleicht durch seine mangelnde Vertrautheit mit Autos bedingt sei. Er aber erklärte mir, ein Auto sei eine Höhle, und Höhlen müsse man auf diese Weise betreten, wenn man sie benutzen wolle. In jeder Höhle, egal ob natürlich oder von Menschen gemacht, wohne nämlich ein eigener Geist, und  diesem Geist müsse man sich mit Respekt nähern. Das Hineinkriechen sei die einzige Art, diesen Respekt zu bekunden.

 

 

S.136

Spezielle haltung bei einem Angriff

Ich empfand eine ungeheure Spannung, die sich in meinem Bauch zu konzentrieren schien. Nach einer Weile wußte ich ohne jeden Zweifel, daß wir, falls wir in dieser Stellung verharrten, alle unsere Energie erschöpfen und dem heranschleichenden Wesen — was es auch sein mochte — zum Opfer fallen würden.

Ich flüsterte, wir müßten um unser Leben laufen. Sie schüttelte verneinend den Kopf. Anscheinend hatte sie ihre Fassung wiedergefunden. Sie sagte, wir müßten uns hinlegen, den Kopf zwischen den Armen verstecken und die Knie zum Bauch anziehen. Vor Jahren einmal, so erinnerte ich mich, hatte Don Juan mich die gleiche Stellung einnehmen lassen, als ich in einer Wüste im Norden Mexikos von einer ähnlich unheimlichen und doch für meine Sinne ähnlich realen Erscheinung gefangengenommen war. Damals hatte Don Juan gesagt, daß Flucht zwecklos sei und daß man nur eines tun könne, nämlich in der Haltung, die la Gorda mir eben befohlen hatte, an der Stelle zu bleiben.

Schon wollte ich mich hinknien, als mich plötzlich die Gewißheit befiel, dass wir einen furchtbaren Fehler gemacht hatten, als wir die Höhle verließen. Wir mußten um jeden Preis zu ihr zurückkehren.

 

 

S. 150

 

Das Auge

 

»Der Nagual sagte mir, daß ein Krieger, wenn er seine Form verloren hat, anfängt, ein Auge zu sehen. Immer wenn ich die Augen schloß, sah ich ein Auge vor mir. Es wurde so schlimm, daß ich es nicht mehr aushalten konnte; das Auge folgte mir, wohin ich auch ging. Ich wurde beinah verrückt. Schließlich gewöhnte ich mich daran. Jetzt bemerke ich’s nicht einmal mehr, weil es ein Teil von mir geworden ist.

Der formlose Krieger benutzt dieses Auge, um das Träumen einzuleiten. Wenn du keine Form mehr hast, brauchst du nicht erst einzuschlafen, um zu träumen. Das Auge vor dir zieht dich an sich, so oft du willst.«

»Wo genau ist dieses Auge, Gorda?«

Sie schloss die Augen und bewegte die Hand vor ihrem Gesicht hin und her.

»Manchmal ist das Auge ganz klein, dann wieder ist es riesig«, fuhr sie fort. »Wenn es klein ist, dann ist dein Träumen präzise. Wenn es groß ist, dann ist dein Träumen wie Fliegen hoch über den Bergen, wobei du nicht viel siehst. Ich habe das Träumen noch nicht genug geübt, aber der Nagual sagte mir, daß dieses Auge mein Trumpf ist. Eines Tages, wenn ich wirklich formlos sein werde, werde ich das Auge nicht mehr sehen. Das Auge wird sein wie ich, ein Nichts, und doch wird es da sein, genau wie die Verbündeten. Der Nagual sagte, alles muß durch unsere menschliche Form gefiltert werden. Wenn wir keine Form haben, dann hat nichts mehr für uns Form, und doch ist alles gegenwärtig. Damals verstand ich noch nicht, was er damit meinte, aber heute sehe ich, daß er völlig recht hatte. Die Verbündeten sind reine Gegenwart, und so wird’s wohl auch mit dem Auge sein. Zur Zeit ist dieses Auge für mich alles. Eigentlich sollte ich, da ich dieses Auge habe, nichts andres brauchen, um mein Träumen auch im Wachzustand in Gang zu setzen. Dies ist mir bisher noch nicht gelungen. Vielleicht bin ich ähnlich wie du, ein bißchen halsstarrig und träge.«

Der Flug

»Wie hast du es gemacht, als du heute nacht geflogen bist?« »Der Nagual lehrte mich, wie ich mit Hilfe meines Körpers Lichter erzeugen kann — weil wir ohnehin Licht sind; ich mache also Funken und Lichter, und diese ziehen die Linien der Welt an. Sobald ich eine sehe, ist es ganz leicht, mich an sie anzuhängen.« Wie hängst du dich da an »Ich packe sie.Sie machte mit den Händen eine Greifbewegung. Sie krümmte die Finger und rückte die Handgelenke zusammen, so daß ihre "Handflächen eine Schale bildeten, wobei die gekrümmten Finger nach oben wiesen. 
»Du mußt die Linie packen, wie ein Jaguar«, fuhr sie fort, »und du darfst die Handgelenke nicht auseinander nehmen, Tust du es doch, dann stürzt du ab und brichst dir den Hals.«

 

 

 

 

S.153

Beim träumen / Gürtel Technik

Beim Träumen, so sagte er, richten wir unsere Aufmerksamkeit mit dem Nabel aus; daher müssen wir ihn schützen. Wir. brauchen Wärme oder das Gefühl, dass etwas gegen den Nabel drückt, damit wir in unseren Träumen die Bilder festhalten können. ich fand im Traum einen Kiesel, der ‚genau in meinen Nabel paßte, und der Nagual ließ mich Tag für Tag in Wasserlöchem, Und Schluchten nach diesem Kiesel suchen, bis ich ihn fand. Ich  fertigte mir dafür einen Gürtel und den trage ich noch Immer bei Tag und Nacht. Wenn ich ihn trage, fällt es mir leichter, in meinen Träumen die Bilder festzuhalten.

 

 

S.214

 

Essen.... viel Essen

 

Viele Jahre, so erzählte sie, fiel ihr nichts ein, was sie tun konnte, um ihre Schwäche anzupirschen. Eines Tages aber war sie es dermassen leid, so fett zu sein, dass sie dreiundzwanzig Tage lang keine Nahrung zu sich nahm. Dies war der Anfang, und damit war ihre Fixierung gebrochen. Dann kam ihr die Idee, sich einen Schwamm in die Backe zu stecken, damit ihre Kunden glaubten, sie habe Zahnweh und könne nichts essen. Diese List klappte nicht nur bei ihren Kunden, die ihr nicht mehr zu essen gaben, sondern auch bei ihr selbst, denn wenn sie auf dem Schwamm herumkaute, hatte sie das Gefühl, als ässe sie etwas.

La Gorda musste lachen, als sie mir erzählte, wie sie Jahrelang mit einem Schwamm im Mund herumgelaufen war, bis sie ihre Gewohnheit, übermässig zu essen, gebrochen hatte.

»Und das war alles, was du tun mußtest, um deine Gewohnheit abzustellen?« fragte ich.

»Nein, ich musste auch noch lernen, wie ein Krieger zu essen.« Und wie isst ein Krieger «

»Ein Krieger isst schweigend und langsam und sehr wenig auf einmal. Ich pflegte beim Essen immer zu reden, und ich ass sehr schnell, und ich ass zu jeder Mahlzeit ungeheure Mengen. Der "Nagual sagte mir, ein Krieger ißt jedesmal nur vier Bissen. Etwas später isst er nochmal vier Bissen, und so weiter. Ein Krieger wandert auch jeden Tag viele Meilen. Meine Schwäche fürs Essen hinderte mich immer daran zu wandern. Ich überwand sie, indem ich jede Stunde vier Bissen ass und indem ich wanderte. Manchmal wanderte ich Tag und Nacht. Auf diese Weise verlor ich das Fett auf meinem Arsch.«

Lachend erinnerte sie sich an den Spitznamen, den Don Juan ihr gegeben hatte.

»Aber um unsere Schwächen loszuwerden, genügt es nicht, sie anzupirschen«, sagte sie. »Du kannst sie meinetwegen bis zum Jüngsten Tag anpirschen, und es macht nicht den geringsten Unterschied. Deshalb sagte der Nagual mir nicht, was ich tun sollte. Was ein Krieger wirklich braucht, um ein makelloser Pirscher zu sein, ist eine eigene Absicht. «

Dann berichtete la Gorda, wie sie, bevor sie dem Nagual begegnete, in den Tag hineingelebt hatte, ohne ein Ziel vor Augen. Sie hatte keine Hoffnung, keine Träume, kein Verlangen nach irgend etwas. Aber die Gelegenheit, etwas zu essen, war immer da;

 

 

S. 222

 

Das Kribeln

 

Ich liess nicht locker und bat sie, mir dieses Gefühl des Sehens ausführlich zu beschreiben, das sie erwähnt hatte. Nach kurzem Zögern willigte sie ein und berichtete mir von dem gleichen Kitzelgefühl, das ich bei meinen Zusammenstössen mit Dona Soledad und den Schwesterchen so deutlich gespürt hatte. Diese Empfindung, so sagte la Gorda, setzte an ihrer Schädeldecke ein und liefe dann über Rücken und Hüften in ihren Unterleib. Sie spürte dies als verzehrendes Jucken in ihrem ganzen Körper, und dies Jucken verwandelte sich dann in das Wissen, dass ich mich wie alle andren an meine menschliche Form klammerte - nur dass die besondere Art, wie ich das tat, ihnen unbegreiflich war. »Hast du eine Stimme gehört, die dir all das sagte?« fragte ich. »Nein, ich sah einfach alles, was ich dir über dich gesagt habe«, antwortete sie.

Ich wollte sie fragen, ob sie in einer Vision gesehen habe, wie ich mich an etwas festklammerte, aber ich verzichtete auf die Frage. Ich wollte nicht meinem üblichen Verhalten frönen. Außerdem wusste ich auch so, was sie meinte, als sie sagte, sie habe »gesehen«. Das gleiche war mir widerfahren, als ich mit Rosa und Lidia zusammen war.

 

 

 

S.256

 

Energie holen

 

Der Nagual sagte, die beste Art, sich Energie zu holen, besteht natürlich darin, die Sonne in die Augen, besonders ins linke, scheinen zu lassen.« Das war mir neu. Dies sagte ich ihr, und sie schilderte mir ein Verfahren, das Don Juan sie gelehrt hatte. Während sie sprach, erinnerte ich mich, daß Don Juan auch mich dieses Verfahren gelehrt hatte. Es bestand darin, den Kopf langsam hin und her zu bewegen und dabei mit dem halb geschlossenen linken Auge das Sonnenlicht aufzufangen. Auf diese Weise, so hatte er gesagt, könne man nicht nur die Sonne nutzen, sondern jede Art Licht, das einem in die Augen scheint.

La Gorda fuhr fort und erklärte, der Nagual habe ihnen empfohlen, sich ihren Schal um die Hüften zu wickeln, um die Hüftknochen beim Rollen zu schützen.

Ich sagte, dass Don Juan mir nie etwas von diesem Herumrollen erzählt hätte. Darauf erwiderte sie, dass nur Frauen sich auf diese Weise rollen können: sie haben einen Uterus, und die Energie geht direkt in den Uterus; durch das Herumrollen verteilen sie die Energie auf den übrigen Körper. Ein Mann dagegen muß, um sich mit Energie aufzuladen, auf dem Rücken liegen und die Knie in der Weise anziehen, dass seine Fusssohlen sich berühren. Die Arme muss er mit senkrecht erhobenen Unterarmen seitwärts strecken und die Finger krallenartig senkrecht spreizen.

 

 

 

S.273

 

Das Gaffen

 

 

Das Angaffen der Blätter, sagte der Nagual, stärkt die zweite Aufmerksamkeit. Wenn du so einen Blätterhaufen stundenlang angaffst, wie er’s von mir verlangte, dann werden deine Gedanken still. Und ohne die Gedanken schwindet die Aufmerksamkeit für das Tonal, und deine zweite Aufmerksamkeit heftet sich an die Blätter, und dann werden die Blätter zu etwas andrem. Den Augenblick, wenn die zweite Aufmerksamkeit sich an etwas heftet, nannte der Nagual das >»Anhalten der Welt«. Und das ist richtig: die Welt steht dann still. Aus diesem Grund sollte immer jemand bei dir sein, wenn du gaffst. Wir wissen nie, auf welche Tricks unsre zweite Aufmerksamkeit verfällt. Da wir sie nie zuvor geübt haben, müssen wir uns erst mit ihr vertraut machen, bevor wir es wagen dürfen, allein zu gaffen.

Die Schwierigkeit beim Gaffen ist, daß man lernen muss, die Gedanken zum Schweigen zu bringen. Dies, sagte der Nagual, habe er uns mit Hilfe der trockenen Blätter gelehrt, weil wir immer die nötigen Blätter finden könnten, wenn wir gaffen wollten. Aber alles andre wäre genauso geeignet.

Sobald du die Welt anhalten kannst, bist du ein Gaffer. Und da man die Welt anzuhalten nur lernen kann, indem man es immer wieder übt, ließ der Nagual uns jahrelang trockene Blätter angaffen. Ich glaube, es ist das beste Mittel, um zu unserer zweiten Aufmerksamkeit zu gelangen.

Und dann kombinierte er das Angaffen trockener Blätter mit tem Suchen der Hände beim Träumen. Ich brauchte etwa ein Jahr, um meine Hände zu finden, und vier Jahre, um die Welt anzuhalten.

 

 

 

S.276

 

Nächste Gaffübung

 

 

Die nächste Gaff-Übung bestand nun darin, immer wiederkehrende Phänomene anzugaffen — zum Beispiel Regen und Nebel, Der Gaffer, so sagte sie, könne seine zweite Aufmerksamkeit auf den Regen konzentrieren und sich durch ihn fortbewegen - oder er könne sich auf den Hintergrund konzentrieren und den Regen als eine Art Vergrösserungsglas benutzen, das ihm verborgene Erscheinungen offenbare. Orte der Kraft und Orte, die man meiden soll, liessen sich finden, indem man durch den Nebel gafft. Orte der Kraft leuchteten gelblich, und Orte, die man meiden soll, seien kräftig grün.

Der Nebel, sagte la Gorda, sei für den Gaffer ohne Zweifel das grösste Wunder auf Erden; er könne ihn, genau wie den Regen, auf zweierlei Weise nutzen. Einer Frau aber erschließe er sich nicht so leicht. Für sie selbst, sagte sie, sei er unerreichbar, auch jetzt noch, wo sie ihre menschliche Form verloren habe. Einmal aber habe der Nagual sie einen grünlichen Schleier über einer Nebelbank »sehen« lassen. Dies sei die zweite Aufmerksamkeit eines Nebel-Gaffers, hatte er ihr erklärt, der dort in den Bergen lebe und auf dem Nebel durch die Gegend reise. Der Nebel, fuhr sie fort, sei dazu geeignet, die Geister von verschwundenen Dingen zu entdecken, und die wahre Leistung des Nebel-Gaffers bestünde darin, seine zweite Aufmerksamkeit in das zu versenken, was sein Gaffen ihm offenbare.

Da erzählte ich ihr, dass ich einmal, als ich mit Don Juan in den Bergen war, gesehen hatte, wie eine Brücke sich aus einer Nebelbank formte. Ich war damals erschrocken, wie präzise und klar alle Einzelheiten dieser Brücke sich abzeichneten. Sie erschien mir mehr als real. Das Schauspiel war so intensiv und lebhaft, dass ich es nie vergessen konnte. Don Juan hatte dazu bemerkt, das ich eines Tages diese Brücke würde überschreiten müssen. »Ich weiss«, sagte sie. »Der Nagual hat mir gesagt, dass du eines Tages, wenn du die Herrschaft über deine zweite Aufmerksamkeit erlangt hast,mit Hilfe dieser Aufmerksamkeit diese Brücke überschreiten wirst- ähnlich wie du mit Hilfe dieser Aufmerksamkeit wie eine Krähe fliegen konntest.

 

 

 

 

S.280

 

Noch eine Gaffübung

Diese besondere Art zu gaffen, so sagte sie, bestand aus vier verschiedenen Handlungen. Als erstes sollte ich mit meiner Hutkrempe die Sonnenstrahlen abschirmen, so daß nur eine minimale Lichtmenge in meine Augen fiel; dann sollte ich die Augenlider halb schliessen. Der dritte Schritt bestand darin, meine Augenlider in dieser Stellung zu halten, um einen gleichmässigen Einfall der Lichtstrahlen zu gewährleisten; und als vierten Schritt sollte ich, durch das Netz der Lichtfasern zwischen meinen Wimpern, im Hintergrund die Schlucht betrachten.

Zuerst gelang es mir nicht, ihre Anweisungen zu befolgen. Die Sonne stand hoch am Himmel, und ich mußte den Kopf zurückbeugen. Ich schob den Hut in die Stirn, bis ich mit der Krempe fast das ganze Sonnenlicht abschirmen konnte. Mehr brauchte es anscheinend nicht. Kaum hatte ich die Augen halb geschlossen, als ein Lichtstrahl, der von der Krone meines Hutes auszugehen schien, buchstäblich auf meinen Wimpern explodierte; diese wirkten wie ein Filter, der ein Lichtnetz erzeugte. Ich hielt die Augen halb geschlossen und spielte eine Weile mit diesem Lichtnetz, bis ich im Hintergrund den dunklen, vertikalen Umriss der Schlucht erkennen konnte.

Jetzt befahl la Gorda mir, den mittleren Teil der Schlucht anzugaffen, bis ich einen tief dunkelbraunen Fleck entdecken würde. Dies sei, so sagte sie, ein Loch in der Wand der Schlucht, erkennbar nicht für das schauende, sondern nur für das »ssehende« Auge. Sie ermahnte mich, all meine Selbstkontrolle einzusetzen, sobald ich diesen Fleck ausgemacht hätte, damit er mich nicht anziehen konnte. Statt dessen sollte ich ihn wie durch ein Fernglas fixieren und angaffen. Wenn ich das Loch gefunden hätte, so sagte sie, sollte ich sie mit der Schulter anstossen, um es sie wissen zu lassen. Sie rutschte zur Seite und lehnte sich gegen mich.

Ich mühte mich einige Zeit, die vier Handlungen gleichmässig zu koordinieren, und dann plötzlich bildete sich in der Mitte der Schlucht ein dunkler Fleck. Ich merkte gleich, dass ich ihn nicht in der Weise sah, wie ich normalerweise zu sehen pflegte. Der dunkle Fleck war eher ein flüchtiger Eindruck, so etwas wie eine visuelle Verzerrung. Sobald meine Selbstkontrolle nachließ, verschwand er. Er kam nur dann in mein Gesichtsfeld, wenn ich die vier Handlungen unter Kontrolle hatte. Und dann fiel mir ein, dass Don Juan mich viele Male etwas Ähnliches hatte tun lassen. Dabei hängte er einen Fetzen Stoff ins Gebüsch, und zwar so, dass er sich in gerader Linie mit bestimmten geologischen Gebirgsformationen im Hintergrund befand — etwa einer Schlucht oder Felswand. Dann liess er mich in etwa zwanzig Meter Entfernung niedersitzen und durch die Zweige der Büsche starren, wo das Tuch hing. Dies löste bei mir einen eigenartigen Wahrnehmungseffekt aus. Das Tuch, das immer eine Spur dunkler war als die geologische Formation, die ich anstarrte, wirkte zuerst wie ein Teil dieser Formation. Der Zweck der Übung war: ich sollte meine Wahrnehmung »spielen< lassen, ohne sie zu analysieren. Dies misslang mir aber jedesmal, weil ich ganz unfähig war, meine Urteilskraft auszuschalten, und meine Gedanken mündeten stets in irgendwelche rationalen Spekulationen über Einzelheiten meiner Wahrnehmungstäuschung.



 

Die Kunst des Pirschens.jpg
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